Seelentraeume
Richards Klugheit und Willenskraft erhellt, wirkte dasselbe Gesicht grimmig – nicht einfach nur gut aussehend, sondern männlich und kraftvoll. Das Gesicht eines Kriegers und Anführers. Eine Schande, dass Casside so wenig aus seinen natürlichen Gaben gemacht hatte.
»Du musst versuchen, weniger wie du auszusehen«, teilte sie Richard mit, während sie mit den Fingerspitzen seine Wange streichelte. Er gehörte ihr noch, ganz gleich, welches Gesicht er trug.
Er nahm ihre Finger und küsste sie. »Das werde ich, wenn es so weit ist. Kannst du ein Stück gehen?«
»Kommt drauf an, wie weit.«
»Bis zur Hintertür. Ich möchte dir jemanden vorstellen.«
»Ich glaube, das schaffe ich.«
Charlotte stemmte sich vom Sofa hoch und folgte ihm nach hinten, vorbei an dem mit ordentlichen Stapeln Papieren und Kristallen bedeckten Tisch. Die tagelange Sichtung der Dokumente hatte sich ausgezahlt. Sie kannten die Fünf, wie sie die blaublütigen Sklavenhändler nannten, inzwischen besser als sich selbst, und sie hatten einen Plan. Richards Gesicht war nur der Anfang. Ihr Part bestand darin, sich mit Lady Ermine anzufreunden. Es würde ihr ein Vergnügen sein, dachte Charlotte, sie würde ihre beste Freundin und Vertraute werden. Und alles nur für den Augenblick, da ihr Plan sich erfüllte und sie die Frau ausblasen konnte wie eine stinkende Kerze.
»Wenn ich erst mal Casside bin, kann ich nicht mehr auf dich aufpassen.« Richard blieb an der Hintertür stehen und nahm eine Orange aus dem Obstkorb auf der Küchenbar.
»Ich kann mich wehren«, teilte sie ihm mit.
»Schon, aber du kannst deine Magie nicht in der Öffentlichkeit einsetzen, weil du sonst womöglich verhaftet wirst. Und die Reflexe eines Kämpfers besitzt du auch nicht.«
Charlotte wollte sich nicht mit ihm streiten. Er hatte ja recht. Sie konnte zwar leicht im großen Maßstab töten, aber jeder mittelmäßige Kämpfer würde mit ihr fertigwerden. Ihre Reaktionszeit war einfach zu langsam. Ihre Wanderung über die Insel hatte das gezeigt.
»Daher wäre ein Leibwächter eine willkommene Ergänzung«, fuhr er fort.
»Ich kann mich aber nicht mit einem Leibwächter in der Gesellschaft der Blaublütigen blicken lassen«, erklärte sie. »Das gehört sich nicht und, was noch wichtiger ist, ein ausgebildeter Kämpfer würde die Fünf nur nervös machen. Vor allem Brennan.«
»Dieser nicht.« Richard öffnete die Tür.
Auf der Wiese stand Sophie. Sie trug eine weite blaue Hose und ein weißes Hemd. Das dunkle Haar hatte sie zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden. An der Hüfte hing eine Scheide mit einem Schwert.
»Nein«, sagte Charlotte.
Richard warf die Orange nach Sophie. Das Mädchen bewegte sich so schnell, dass ihre Hiebe nur schemenhaft zu erkennen waren. Dann fielen vier Stücke Orange ins Gras. Sophie schnippte Saft von ihrer Klinge.
»Nein«, wiederholte Charlotte.
»Nur eine Vorsichtsmaßnahme«, gab er zurück. »Es ist typisch für dich, eine Gefährtin zu haben. Warum nicht sie?«
»Weil wir ein gefährliches Spiel spielen und ich nicht will, dass ihr etwas zustößt.«
Sophie zuckte nicht mal. Sie verzog keine Miene, ihre Augen jedoch verrieten, wie gekränkt sie war. Offenbar war sie an Zurückweisungen gewöhnt.
»Warum macht ihr zwei das nicht unter euch aus?«, fragte Richard und ging zurück ins Haus.
Na toll.
Das Kind auf der Wiese sah Charlotte mit fast hündischer Erwartung an, als sei Sophie ein halb verhungerter Welpe, dem Charlotte ein Steak unter die Nase hielt. Also kämpfte Charlotte gegen ihren Muskelkater an und betrat die Grasfläche. »Wollen wir ein Stück gehen?«
Richard sah zu, wie Charlotte und Sophie im Wald verschwanden. Der namenlose Hund trottete hinterher.
Hinter Richard erklang das Geräusch leiser Schritte. Er erkannte den Gang.
Kaldar stellte sich neben ihn. Sein Gesicht wirkte nachdenklich. »Sehr hübsch. Alle beide. Die beiden Frauen, die dir am meisten bedeuten.« Seine Stimme verriet einen Anflug von Missbilligung.
»Ich nehme an, du bist hier, um mich davon in Kenntnis zu setzen, dass ich wieder mal einen schweren Fehler mache.«
»Nein.« Kaldar verzog das Gesicht. »Ja.«
Richard seufzte und bedeutete ihm weiterzusprechen.
»Ich habe sie überprüft«, sagte er. »Weißt du, wer die Ersten Zehn sind?«
»Die ersten zehn blaublütigen Familien, die nach Adrianglia kamen.« Die Besten der Besten.
»Charlotte wurde ihrer Familie weggenommen, als sie sieben Jahre alt war. Sie kam dann auf
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