Seelentraeume
Dagegen war er machtlos.
Wenn er Charlotte nur früher, vor diesen Ereignissen kennengelernt hätte … Ein ebenso faszinierender wie fundamental blödsinniger Gedanke. Wäre er ihr früher begegnet, hätte sie ihn vermutlich keines Blickes gewürdigt. Schließlich war sie eine Blaublütige und noch dazu Heilerin, stand wahrscheinlich in hohem Ansehen, während er nur eine namenlose Sumpfratte war, ohne Status, ohne Rang und mit allzu bescheidenen Mitteln ausgestattet.
Trotzdem konnte er nicht aufhören, an sie zu denken. So fing es immer an, dachte Richard grimmig. Ständig an eine Frau denken, sich fragen, wie es wohl sein würde, es sich vorstellen. Mit rein körperlicher Anziehung kam er klar, aber er hatte Charlotte in einem Moment der Verwundbarkeit kennengelernt. Er wusste sehr genau, was es sie kostete, mit ihm zu gehen. Sie war im wahrsten Sinne des Wortes couragiert. Ausbildung und Erfahrung hatten ihn gestählt, Furcht vor einem Gegner kannte er praktisch nicht. Meistens fühlte er nicht mal Beklemmung, als wäre seiner Seele Hornhaut gewachsen. Vielleicht hatte er einfach nichts mehr zu verlieren.
Charlotte dagegen besaß keinerlei Kampferfahrung. Sie verbarg ihre Furcht gut, doch allmählich verstand er sie besser. Wenn sie ihr Kinn reckte und die Schultern straffte, spürte sie Angst. Die Begegnung mit Jason Parris hatte sie eingeschüchtert, und seine Schläger hatten ihr ebenso Angst eingejagt wie die Meute, die sie durch die Straßen hetzte. Trotzdem gab sie nicht auf und überwand ihre Furcht jedes Mal. Diese Willenskraft verdiente Bewunderung und Respekt. Ihre Menschlichkeit faszinierte ihn und zog ihn zu ihr hin. Er wollte mehr über sie erfahren. Er wollte ihr die Angst nehmen, alle Last von ihr abwenden. Allerdings konnte er das nicht, ohne sie aus der Schusslinie zu nehmen, hatte aber versprochen, ihren Einsatz zu respektieren.
Jack kam aus dem Turmzimmer. Nackt und mit roten Augen.
Richard gab ihm die Kleider. Der Junge zog sich an.
Richard erhob sich. »Zu trauern ist keine Schande. Es ist allzu menschlich. Du hast nichts Falsches getan. Du bist deshalb nicht schwach, und verstecken musst du dich auch nicht.«
Jack schaute weg.
»Du hättest den Tod deiner Großmutter nicht verhindern können. Du solltest dich dafür weder verantwortlich noch schuldig fühlen. Gib lieber denen die Schuld, die wirklich dafür verantwortlich sind.«
»Was ist aus den Sklavenhändlern geworden?«, wollte Jack wissen. Seine Stimme klang heiser.
»Ein paar hat deine Großmutter getötet, Charlotte den Rest.«
Seite an Seite stiegen sie die Treppe hinunter.
»Ich will mitmachen«, sagte der Junge.
»Wobei?«
»Du bist der Jäger. Du jagst die Sklavenhändler. Ich will dabei mitmachen.«
»Und woher weißt du das?« Wenn jemand gesungen hatte, bedeutete das ein Problem.
Jack zuckte nur mit einer Schulter. »Wir haben dich und Declan belauscht.«
»Declans Arbeitszimmer ist schalldicht.«
»Nicht für wiederbelebte Mäuse«, sagte Jack. »George möchte so gerne Spion sein. Also belauscht er jeden und erzählt mir dann, was er gehört hat.«
Fantastisch. Dabei hatten er und Declan besondere Vorkehrungen getroffen – zum Beispiel schalldichte Siglen aktiviert und sich erst zu später Stunde getroffen. Und doch hatten zwei Teenager ihre sämtlichen Sicherheitsvorkehrungen zunichtemachen können. Wie beruhigend. Trotzdem kam er sich nicht wie ein Vollidiot vor. Und war sicher, dass Declan sich auch nicht so vorkommen würde.
»Ich komme mit dir«, sagte Jack.
»Ganz sicher nicht.«
In ungezähmter Trauer bleckte Jack die Zähne.
»Nein«, entgegnete Richard. »Wir machen das nicht zum Spaß.«
»Kaldar lässt uns aber …«
»Nein.« Die Endgültigkeit, die er in dieses eine Wort legte, verbot jeden Widerspruch.
Jack hielt den Mund und trottete missmutig neben ihm her. Sie verließen den Turm und gingen zur Stadt zurück.
Diese Schlacht hatte er gewonnen, dachte Richard, während er den Jungen betrachtete, der stur mit den Zähnen knirschte. Sobald sie zurück waren, würden George und Jack ihm abwechselnd zusetzen. Im schlimmsten Fall würde er Barlo bitten, die beiden einzusperren, solange er und Charlotte sich um das Schiff kümmerten.
»George«, flüsterte Charlotte.
Doch George blieb weiter wie versteinert in ihren Armen liegen. Sie sah ihn noch mal prüfend an. Keine körperliche Verletzung. Nur zu viel Magie. Und zu schnell verausgabt obendrein. Sie hatte keine Ahnung, ob er auf
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