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Seelentraeume

Seelentraeume

Titel: Seelentraeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilona Andrews
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ihm seine Natur stets zugutehielt. Kelena würde ihn nicht so gut behandeln. Wenn man ihn hier entdeckte und erkannte, würde man ihn gewiss zu töten versuchen.
    Richard drehte sich und suchte die Gebäude ab. Der Junge war schnell, vor allem auf allen vieren, und nicht bei klarem Verstand. Luchse hielten sich gerne auf Bäumen auf und stürzten sich aus dem Geäst auf ihre Beute. Jack würde daher die Höhe suchen, wo er allein sein konnte.
    Das Lager auf der anderen Kanalseite war zu niedrig. Die Hochhäuser im fernen Geschäftsviertel waren zu weit weg und zu dicht bevölkert.
    Rechts ragte der hohe, helle Turm eines der Zähne von Kelena in den Himmel. Hoch und einsam. Das perfekte Versteck.
    Richard lief durch das Labyrinth des Kessels, über die Promenade ans Wasser, dann weiter, über den Kanal und an den sich bis aufs Meer hinaus erstreckenden Docks entlang. Es war ein wolkiger Tag, das Meer spiegelte den grauen Himmel.
    Richard hatte im Leben schon viele Verluste erlitten. Zuerst war seine Mutter gestorben, mit achtundzwanzig, an einem Aneurysma. Er wusste noch, wie sie in ihrem Sarg gelegen hatte, eine blasse Imitation ihrer selbst. Einen absurden Moment lang hatte er sich gefragt, ob jemand sie durch eine Puppe ersetzt hatte. Dann sein Vater. Marissa. Tante Murid, Erian …
    Er wünschte, er hätte George und Jack dasselbe Schicksal ersparen können. Doch wieder einmal sah er Kinder leiden und vermochte nichts dagegen zu unternehmen.
    Schließlich gelangte er zum letzten Dock. Weit dahinter brachen sich die Wellen an Kelenas Zähnen, klatschten gegen die steinernen Fundamente der Türme. Es war Ebbe, daher sah man hier und da Sandbänke. Richard ließ es drauf ankommen und sprang, das Wasser reichte ihm bis zu den Knien.
    Er watete zur nächsten Sandbank in Richtung des ersten Turms. Der Sand war mit Pfotenspuren gespickt wie mit Pockennarben. Katzenspuren, keine Krallen. Die Fährte führte zum Turm.
    In den Türmen gab es Wärter, die das Wetter beobachteten, bei Sturm magische Schutzschilde aktivierten und im Schichtdienst Wache hielten. Richard lief, so schnell er konnte, los und brachte die Sandbank mit großen Schritten hinter sich.
    Da glitt in dem Turm vor ihm, ungefähr sechs Meter über der Wasserlinie, ein Steinquader zur Seite. Weitere Mauersteine folgten, führten spiralförmig rings um den Turm nach unten. Ein Mann kam heraus und rannte, wild um sich blickend, die neu gebildete Treppe herab.
    Richard erreichte den Turm. Endlich.
    Der Turmhüter platschte durchs Wasser auf ihn zu. »Im Turm ist ein Gestaltwandler!«
    Richard zog eine Halbdublone aus der Hosentasche. »Kein Gestaltwandler.«
    »Aber ich habe ihn gesehen!« Der ältere Mann wedelte mit den Armen. »Eine Riesenkatze! So groß wie ein Pferd!«
    Ein Pferd war ein bisschen übertrieben. Höchstens wie ein Pony. Richard griff nach der Hand des Mannes und legte die Münze hinein. Dann blickte er ihm in die Augen. »Da ist kein Gestaltwandler«, wiederholte er langsam.
    In den Augen des Mannes dämmerte Verständnis. »Ich habe nichts gesehen.«
    »So ist es gut. Ich muss mir Ihren Turm mal für ein paar Minuten ausleihen, ich bin aber gleich wieder weg, dann können Sie ohne Probleme da rein.«
    Richard nahm die Treppe in Angriff.
    »Wenn er was kaputt macht, müssen Sie dafür bezahlen!«, schrie der Turmwärter noch. »Und fassen Sie ja nichts an!«
    Richard erklomm die Steinstufen, dann schob er sich durch den Eingang. Erstaunlich, wie schnell Angst sich legte, sobald Gold ins Spiel kam.
    Um den steinernen Kern des Turms wand sich eine von zahlreichen Fenstern erhellte Wendeltreppe. Er stieg die Stufen hinauf, immer höher, bis er am Ende der Treppe eine offen stehende Tür sah.
    Von oben ließ sich ein ungebändigter, qualvoller Laut vernehmen. Weder das Fauchen einer Katze noch irgendein anderes Geräusch, das man einem Luchs zugetraut hätte. Halb Heulen, halb Schrei, herzzerreißend und brutal, erschütterte es die Luft. Wenn Richard Nackenfell besessen hätte, hätte es sich gewiss gesträubt.
    Richard setzte sich. Nicht nötig, dort reinzugehen. Der Junge musste jetzt allein sein.
    Da ertönte der nächste Schrei, wortlos und von Schuldgefühlen und Trauer erfüllt.
    Richard lehnte sich mit dem Rücken gegen die Mauer. Jack und er, sie waren beide Männer, und unter Männern gab es ungeschriebene Gesetze.
    Seit dem Tod seines Vaters waren viele Jahre vergangen, und während des größten Teils dieser Zeit hatte sich seine

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