Seelentraeume
Tante Murid um ihn und Kaldar gekümmert. Als sie ihn zu sich nahm, war er fast schon erwachsen gewesen, trotzdem wusste er noch, wie weh es getan hatte. Er war verängstigt, hatte sich verlassen gefühlt, schuldig, weil er nicht da gewesen war, doch das einzige Gefühl, das die Regeln vorsahen, war Wut, also hatte er innerlich gewütet wie ein Irrer. Tante Murid hatte darauf ebenso erfahren reagiert wie auf Kaldars Kleptomanie. Um sich überhaupt noch lebendig fühlen zu können, wichen beide vom rechten Pfad ab und bauten jede Menge Mist. Doch beide konnten sich selbst in ihren dunkelsten Stunden geliebt fühlen. Sie hatten ein Zuhause. Auch wenn es nicht dasselbe war wie vorher, waren sie doch zutiefst dankbar dafür.
Als er zweiunddreißig war, hatte die Hand seine Familie angegriffen. Und im letzten Kampf gegen die Spione aus Louisiana war Murid gefallen. Er hatte nicht gesehen, wie sie starb, sein Bruder Kaldar schon. Aber Richard erinnerte sich noch sehr gut an ihren misshandelten Leichnam, an den Schmerz in seiner Brust und an Kaldars Gesichtsausdruck, den glasigen Blick eines Mannes, dessen sämtliche Gefühle in tiefer Trauer ertränkt worden waren. Sie sprachen nicht darüber. Bei der Beerdigung standen sie, weil man das eben so machte, mit versteinerten Mienen nebeneinander. Und anschließend tranken sie, weil es sich für eine Familie aus dem Moor so gehörte, und gingen dann im Haus der Mars ihrer Wege.
Richard suchte sein Zimmer auf und wollte dort lesen, doch stattdessen saß er versteinert im Sessel und starrte blicklos vor sich hin, bis er bemerkte, dass er weinte. Kaldar hatte vermutlich ebenfalls Tränen vergossen. Auch wenn keiner von beiden seine Trauer jemals eingestehen würde. Jedenfalls sprachen sie nie darüber.
Die Frau, die sich um sie gekümmert, sie beschützt und betreut hatte und in die Schuhe beider Elternteile schlüpfte, war nun tot. Obwohl Richard wusste, dass sie beide Trost dringend nötig hatten, konnte er sich nicht überwinden, seinen Bruder zu trösten.
Und nun hatten Jack und George eine Frau verloren, die sie geliebt und behütet hatte, und hielten sich prompt an dasselbe Muster. Wahrscheinlich war es das Beste, dass Jack davongelaufen war. Wenn George frei und für sich trauern wollte, dann konnte er das, weil Charlotte eine Frau war, deren Gegenwart ihn nicht davon abhalten würde. Und Jack …
Ein neuer verlorener Schrei hallte durch den Turm.
Er würde mit Jack reden, wenn der Junge so weit war. Er musste ihm Dinge sagen, von denen er wünschte, jemand hätte sie ihm und Kaldar schon vor Jahren mitgeteilt.
Er und Kaldar würden trotz ihrer Differenzen Brüder bleiben, dachte Richard. Sie hatten sich auf dieselbe Weise mit ihrer Schuld und Qual auseinandergesetzt. Kaldar hatte beides in seinen irrsinnigen, besessenen Vernichtungsfeldzug gegen die Hand gelenkt. Nicht mal seine Heirat mit der Frau, die er über alle Maßen liebte, hatte seinen Bruder von seinem Weg abgebracht. Richard dagegen hatte sich entschlossen, die Sklavenhändler zu jagen. Und vermutlich fand sich auch darin ein Anflug von Irrsinn. Nein, vielleicht nicht Irrsinn, aber Fanatismus.
Fanatisch. Ein uraltes Wort, das einmal
von Gott inspiriert
bedeutet hatte. Seiner ersten Auslegung nach beschrieb es einen von Gott oder einem Dämon besessenen Menschen. Eine sehr gute Beschreibung, dachte Richard. Er war tatsächlich besessen, allerdings nicht von einem Dämon, sondern von dem Bedürfnis, einen Fehler zu korrigieren. Er besaß den wahren Glauben, seine Sache war gerecht, und er hatte sich ihr vollständig, ohne Bedauern verschrieben. Doch im Grunde drehte sich alles um Ohnmacht. Als Sophie zuerst zu duschen und dann zu sprechen aufgehört hatte und schließlich davongelaufen war, hatte er nichts dagegen unternehmen können. Er hatte sich nie im Leben so hilflos gefühlt, nicht einmal, als seine Frau Marissa ihn verlassen hatte.
Er hatte Marissa mit absoluter Hingabe geliebt, und als sie ihn nach zweijähriger Ehe verließ, brach seine Welt zusammen. Schließlich, als er aus dem tiefen, dunklen Loch, in dem er monatelang gelebt hatte, gekrochen war, hatte er es sich eine Lehre sein lassen. Er glaubte, diese Erfahrung hätte ihn von dem Wunsch nach weiblicher Gesellschaft geheilt, so wie er davon ausging, dass der eingeschlagene Weg die Fähigkeit, überhaupt etwas zu empfinden, aus ihm herausgebrannt hatte. Doch dann kam Charlotte und rührte an etwas in ihm, das ihn zu einer Reaktion nötigte.
Weitere Kostenlose Bücher