Seelenzorn
um die Erinnerungen aus ihrem Kopf zu radieren und ihr ein bisschen Frieden zu schenken.
Wie lange schon, Chess?
Natürlich gab es da immer noch die letzte Valtruin. Die würde auf jeden Fall reichen. Aber davon konnte sie auch zu fröhlich werden und auf dumme Gedanken kommen, wie zum Beispiel zu ihm zu fahren. Das wäre ein Fehler. Vorhin hatte er es noch geschafft, sich zu beherrschen - außer beim armen Lex, dessen Gesicht fast auf die doppelte Größe angeschwollen war, als sie ihn zu Hause abgesetzt hatte -, aber jetzt? Nachdem er ein paar Stunden Zeit gehabt hatte, seine Gedanken zu ordnen? Nachdem er Bump davon erzählt hatte? Ihr gefror das Blut in den Adern.
Sie hatte wirklich keine Lust, sich ihm zu stellen. Andererseits wollte sie aber auch bestimmt nicht hier rumsitzen und warten, dass er bei ihr aufkreuzte. Die schmuddeligen eierschalfarbenen Wände ihrer Wohnung schienen zu atmen und ihr bei jedem Zug näher zu kommen. Die Bücher starrten sie anklagend an. Hier konnte sie nicht bleiben. Hier wollte sie nicht bleiben.
Aber wohin sollte sie sonst gehen? Das Bild des Pfeifenraums blitzte vor ihrem inneren Auge auf. Das wäre jetzt genau das Richtige. Die dreckigen Stufen zu dem zwielichtigen Raum mit der hohen Decke und den vielen Sofas hinabsteigen, sich in die Kissen fallen lassen und an der Pfeife ziehen, bis sie nicht mal mehr den eigenen Namen wusste.
Aber das ging nicht. Bump konnte sie auch dort finden. Terrible war vielleicht dort und drehte seine Runden oder hielt Ausschau nach Leuten, die ihm Geld schuldeten. Und zu Slobag konnte sie auch nicht gehen. Allein der Gedanke, sich heute Nacht dieser Gegend auch nur zu nähern, verursachte ihr Übelkeit. Keine Pfeifen. Nicht heute Nacht. Und vielleicht wochenlang nicht mehr.
Als das Telefon klingelte, starrte sie es an wie einen Axtmörder. Lex? Terrible?
Merritt Hale.
»Ich habe mich gefragt, ob du vielleicht Lust auf einen Drink hast? Klar, es ist schon spät, aber meine Schicht ist gerade vorbei und ...«
»Ja«, sagte sie und hoffte, dass er ihr die Verzweiflung nicht anhörte. Das war jetzt genau das Richtige - einfach mal rauskommen. Raus aus der Wohnung, raus aus ihren Gedanken, mitten unter Leuten sein. »Wo wollen wir hin? Ich treff dich dann dort.«
Er sagte es ihr. Eine Bar in Northside, ungefähr zwanzig Minuten entfernt, aber weit genug weg von Downside, dass sie sich keine Sorgen machen musste. Perfekt.
Sie trocknete sich die Haare, streifte sich ein paar saubere Klamotten über und schmierte sich rasch ein bisschen Make-up ins Gesicht, um die geröteten Augen und die fleckige Haut zu kaschieren.
Sie wollte wenigstens das verdecken. Aber was in ihrem Inneren vorging ...
Eine Hure ist wenigstens ehrlich.
Sie schnappte sich die Schlüssel, donnerte die Tür hinter sich zu und wünschte sich, die Pillen würden ein bisschen schneller wirken. Oder sie könnte einfach die Tür hinter ihrem ganzen Leben zuwerfen und noch mal ganz von vorne anfangen.
Stattdessen blieb ihr nichts weiter übrig, als auszutesten, wie stark sie sich betrinken konnte. Sie hatte so das Gefühl, dass es nicht reichen würde.
Die Bar gehörte zu einer dieser mittelmäßigen Ketten, in denen die Wanddekoration darauf abgestimmt war, ein »rustikales« Flair zu verbreiten. Im Eingangsbereich war ein antikes Buch der Wahrheit im Glaskasten ausgestellt, um den Anschein zu erwecken, als gäbe es den Laden schon seit der Zeit vor der Geisterwoche. Von wegen. Sie konnte den Baustaub quasi noch riechen, als sie durch die Tür kam.
Was trieb Merritt bloß in so einen Laden? In den Neubaugeruch mischte sich der Gestank von Investmentbanking und Hochnäsigkeit. Sie verabscheute diese Atmosphäre und kam sich vollkommen fehl am Platz vor. Und die Musik, die aus den Lautsprechern plärrte, machte es auch nicht gerade besser; ein unablässiger Easy-Listening-Brei, bei dem sich ihr die Haare sträubten.
Aber das Leder auf den Barhockern war nicht rissig und aufgeplatzt, und es gab tatsächlich mehr als nur eine Sorte Bier, insofern war es eine nette Abwechslung von den Kneipen in Downside. Sie bestellte sich ein Bier, dazu einen Wodka und signalisierte dem Barkeeper, den Nachschub nicht abreißen zu lassen. Sie würde diese verdammte Stimme in ihrem Inneren zum Schweigen bringen, und wenn es das Letzte war, was sie tat.
Vielleicht wäre es das ja. Wenn das kein tröstlicher Gedanke war.
»Alles klar bei dir, Chess?« Merritt nippte an seinem Drink - anscheinend
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