Seelenzorn
als sie die Tür öffnete, aber der Flur war leer und dunkel. Die Party fand im Erdgeschoss statt, und war laut genug, um Tote aufzuwecken. Oder auch nicht, wie Chess inständig hoffte.
Im Jahr 1924, in der Zeit vor der Wahrheit, war auf diesem Grundstück ein brutaler Mord geschehen. In dem Zeitungsausschnitt, den Roger Pyle seiner Dokumentation beigefügt hatte, erfuhr man einen Teil der Geschichte, aber Chess hatte in den Kirchenarchiven nachsehen müssen, um auch den Rest zu erfahren.
Die Mordopfer waren Mr und Mrs Michael Cleveden, ihr erwachsener Sohn Andrew und zwei Bedienstete gewesen. Eine Nachbarin - dieser Stadtteil war zu jener Zeit noch eine eigenständige Gemeinde gewesen - war an jenem Morgen vorbeigekommen, um eine Tasse Zucker zu borgen. Als sie das Haus merkwürdig still vorfand, verschaffte sie sich durch die unabgeschlossene Tür Zutritt und entdeckte die Bewohner tot in den Betten; die Zimmer waren blutbesudelt.
Die Kirche hatte den Polizeibericht beschlagnahmt, dem auch Fotos und Verhörprotokolle beilagen. Von beidem gab es nicht allzu viele. Die Clevedens waren in ihrem Städtchen beliebt gewesen. Nette Leute.
Zu dumm, dass Nettigkeit nicht über den Tod hinaus anhielt. Wenn es etwas gab, das hasserfüllter und brutaler war als der Geist eines Mordopfers, war es Chess noch nicht untergekommen. Und darüber war sie auch ganz froh.
»Shedka ramedina«, flüsterte sie, während sie einen Halbkreis aus weißem Salz um die obersten Treppenstufen streute. Mit dem kleinen Finger der linken Hand schlug sie ein Schutzzeichen in die Luft und spürte, wie es lebendig wurde und an seinem Platz schwebte. Der war nicht der beste. Lieber hätte sie es am Fuß der Treppe angebracht. Aber wenn alles glattging, würde jeder Gast auf dem Weg ins Obergeschoss plötzlich beschließen, dass es doch nicht so wichtig war, was er oben gewollt hatte - und allzu viele würden sich sowieso nicht hierher verirren, dachte sie, immerhin sollte es ja spuken.
Unter einem langen Tisch an der Wand befand sich eine Steckdose, die ihr gerade recht kam. Chess stöpselte ihre Alarmschranke ein und schaltete das Gerät an. Dann zog sie ihren Cutter hervor und machte an der Fußleiste einen kleinen Schlitz in den Teppich.
Die Musik im Erdgeschoss schwoll an. Sie blickte kurz auf und machte sich wieder an die Arbeit, indem sie das Alarmkabel unter dem Teppich hindurchführte, bis der kleine Knoten am Ende an die gegenüberliegende Wand stieß. Gut. Sie hatte die Anlage getestet, bevor sie gekommen war. Wenn jemand in das schwache Kraftfeld eindrang, das von dem Kabel ausging, würde der Empfänger an ihrem Gürtel vibrieren.
Zeit, sich Ardens Zimmer anzusehen. Chess klemmte sich die kleine Stablampe zwischen die Zähne und machte sich auf die Jagd.
Im Kleiderschrank hingen derartig viele Klamotten, dass sich die Stange unter der Last bog. Es war fast unmöglich, sie beiseitezuschieben. Chess raffte so viele wie möglich zusammen und legte sie auf den Boden, wobei sie sich die Reihenfolge sorgfältig einprägte.
Dann ließ sie den Lichtkegel über die Schrankdecke wandern. Nichts.
Als Nächstes kam der Strommesser zum Einsatz. Sie streifte den Sensor ergebnislos über den Schrankboden und probierte dann verschiedene Stellen an den Wänden aus. Nur an einem Punkt piepte es, und der lag so niedrig, dass es sich höchstwahrscheinlich um eine gewöhnliche Leitung in der Wand handelte.
Was also hatte die liebe kleine Arden zu verbergen?
Zunächst einmal eine kleine Sammlung ausgesprochen ungezogener Kleidungsstücke - paillettenbesetzte Trägerhemdchen und Röcke, die kaum den Hintern des Mädchens bedecken konnten. Eine kleine weiße Schuhschachtel ...
Bingo. Na ja, nicht gerade ein Volltreffer, aber ein paar bemerkenswerte Sachen. Einige Joints und ein Tütchen mit Gras, das darauf wartete, verbaut zu werden. Chess roch daran und verzog das Gesicht. Nicht annähernd so gut wie Bumps Stoff. Eine Rasierklinge. Hmmm. Allerdings kein Strohhalm; wenn Arden also nicht jedes Mal einen neuen benutzte, zog sie damit zumindest keine Lines. Kondome. Ein kitschiger Schmetterlingsanhänger aus verschiedenen Goldsorten. Vielleicht das Geschenk eines Freundes, von dem Ardens Eltern nichts wissen durften? So oder so, es spielte keine Rolle. All das ging Chess nichts an.
Nach fünfundzwanzig Minuten intensiver Suche war sie überzeugt, dass das Zimmer des Mädchens clean war; eine Riesenenttäuschung. Andererseits hatte sich in diesem
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