Seelenzorn

Natürlich gab es im Archivgebäude noch viel mehr zu finden: jahrhundertealte christliche Bibeln, die auf dünnem, durchscheinenden Papier gedruckt waren, einen ganzen Raum voller Krippenfiguren, die Rekonstruktion eines buddhistischen Tempels unter dem gewölbten Dach, Korane und Gebetsteppiche und Statuen von Hindugottheiten, an deren steinernen Armen stellenweise Blattgold klebte wie eine prachtvolle Hautkrankheit.
    Nichts davon war heute noch von Bedeutung, aber die Bilder faszinierten sie immer wieder. Das alles hatte der Menschheit einmal Trost gespendet. Jetzt stand es in einem Museum und war nur noch für diejenigen zu sehen, die sich die Mühe machten und eine Zugangsberechtigung beantragten. Wie schnell doch Menschen und Dinge an Bedeutung verloren und wie schnell selbst das Heilige dem Vergessen anheimfiel.
    Sie erschauderte, griff nach den staubigen Büchern und schlug den Index am Ende auf, bevor sie die Seiten nach dem Symbol durchsuchte. Modergeruch stieg aus den Seiten auf, stach ihr in die Nase und brannte ihr in den Augen. Sie rieb sie sich mit dem Handrücken und suchte weiter.
    In den ersten drei Büchern war nichts zu entdecken. Sie wollte schon aufgeben, als sie es fand.
    Nicht das Symbol, nach dem sie gesucht hatte, oder jedenfalls nicht ganz. Mehrere Linien schienen zu fehlen - ein ganzer Buchstabe oder eine vollständige Rune? Das ließ sich nicht feststellen. So, wie sich die Linien des Symbols überlagerten, mochte es ein Element oder drei sein. Trotzdem, besser als gar nichts. Es sah aus wie eine unfertige Skizze des Symbols auf Daisys Haut.
    Sie hatte richtig gelegen. Es stand für Schutz ... aber nicht für die Toten. Das Symbol war für Kirchenangestellte gedacht, um im Fall einer schweren Verletzung die Seele im Körper zu halten.
    Der Chester-Airport-Fall hatte sich zum Teil um einen Mann gedreht, dessen Seele durch Magie in seinem verwesenden, aber noch lebenden Körper eingesperrt und benutzt worden war, um einen bösen Geist zu nähren. Für eine Sekunde gefror Chess das Blut in den Adern. Scheiße, das war doch wohl nicht etwa ein weiterer ...
    Nein. Nein, Daisy war vollkommen tot gewesen. Und auch die anderen Nutten, von denen Terrible und Lex gesprochen hatten, waren tot.
    Aber warum sollte der Täter ihre Seele in ihrem Körper festhalten, wenn er sie dann doch entweichen ließ und die Leiche nicht mitnahm? Welche anderen Runen verbargen sich noch in diesem Symbol, und welche Wirkung hatten sie?
    Sie seufzte und machte ein Foto von der Buchseite, wobei sie den Zoom einsetzte, um auch die Bildunterschrift zu erfassen. In den Anfangszeiten der Kirche war es für die Angestellten Vorschrift gewesen, dieses Symbol irgendwo am Körper anzubringen, bevor sie gegen die Geister in die Schlacht zogen. Chess hielt das für eine vernünftige Idee; fragte sich nur, warum sich das geändert hatte und das Symbol nicht mehr eingesetzt, ja nicht einmal mehr gelehrt wurde.
    In den Kursen, die sie seit dem fünfzehnten Lebensjahr bis zu ihrem Abschluss mit einundzwanzig besucht hatte, hatte man sie Hunderte von Schutzsymbolen gelehrt, vor allem zu Studienzwecken und als Grundlage für die Entwicklung eigener Zeichen. Jeder Kirchenangestellte war angehalten, ein eigenes System zu entwickeln und fortlaufend zu perfektionieren. Dazu gehörte ein eigener Umgang mit den Kräutern, Symbolen und magischen Energien. Es gab Punktabzug, wenn man einfach nur die Entwürfe der Kirche kopierte.
    Also war es sehr gut möglich, dass dieses Symbol, das anscheinend irgendwann im 20. Jahrhundert entworfen worden war, als Grundlage für jenes gedient hatte, das die tote Daisy auf der Brust trug ... und es war auch sehr gut möglich, dass diese Variante schon einmal benutzt worden war, wenn sie das Unbehagen des Ältesten Griffin bedachte. Und das Ergebnis musste so verstörend gewesen sein, dass man das Symbol ganz und gar aus der Kirchenausbildung gestrichen hatte.
    Sie schlug die Bücher zu und warf einen prüfenden Blick auf die verschnörkelte hölzerne Wanduhr. Auf dem altertümlichen Zifferblatt aus Ebenholz war es fast drei Uhr. Zeit zu gehen. Sie wollte heute Nacht noch zum Haus der Pyles und vorher ein bisschen schlafen.
    Außerdem standen ihre Chancen, noch mehr über das Symbol herauszufinden, denkbar schlecht, es sei denn, der Älteste Griffin änderte seine Meinung und käme zurück, um ihr alles zu erzählen, was er wusste. Vielleicht fände sich irgendwo noch etwas in den Akten, aber in Anbetracht