Seelenzorn
Also reichte sie ihm das Notizbuch, während ihr die Wangen schon vor lauter vorgetäuschter Harmlosigkeit schmerzten.
»Entwirfst du da ein neues magisches Symbol?« Er hob den Blick und sah sie nicken. »Interessant. Was soll es bewirken? Schutz, nehme ich an, schließlich hast du schon Higam da stehen. Aber wozu sind die anderen Elemente?«
»Eigentlich versuche ich, ein Symbol zu rekonstruieren.« Vielleicht war es Wahnsinn, vielleicht Inspiration, vielleicht eine Mischung aus beidem. Sie griff nach der Kamera und drehte sie herum. Das Foto war aus nächster Nähe aufgenommen worden, sodass Daisys totes Gesicht nicht zu sehen war, nicht mal der Hals. Nichts wies daraufhin, dass sie das Symbol, das sie dem Ältesten Griffin gerade zeigte, an einer Leiche aufgenommen hatte.
Hätte sie ihn nicht so aufmerksam beobachtet, wäre ihr das leichte Zucken seiner Augenbrauen und das Blinzeln vielleicht gar nicht aufgefallen. Hatte er es schon einmal gesehen?
»Ich habe es gestern entdeckt«, sagte sie, bevor er nachfragen konnte. Im Grunde war es nicht mal gelogen. »Ich fand, dass es interessant aussieht.«
»An wem? Wo hast du es entdeckt?«
»Äh, in Cross Town.« Das war nun aber wirklich eine Lüge. »An einer Frau in einem Restaurant. Wieso?«
»Ja ...« Er sah sie nicht an.
»Ältester Griffin? Was ist denn?«
»Was? Ach, nichts. Es erinnert mich nur ... na ja, an etwas, das ich vor Jahren einmal gesehen habe, noch während meiner Ausbildung. Wusstest du, dass ich einer der Ersten war, die hier das Studium aufgenommen haben? Noch bevor die Geisterwoche der Welt bewies, dass wir tatsächlich im Besitz der Wahrheit sind.«
Sie nickte. Normalerweise hörte sie gerne seine Geschichten aus den frühen Tagen der Kirche, aber heute lagen ihr wichtige Dinge auf der Seele. »Was war denn das für ein Symbol, das Ihr vor all den Jahren gesehen habt, Sir? Wenn ich fragen darf.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, jetzt, wo ich genauer darüber nachdenke, glaube ich doch nicht, dass es das gleiche war.«
»Aber...«
Die Kamera landete mit einem Klacken wieder auf dem Tisch. »Es tut mir leid, meine Liebe. Ich habe gar nicht gemerkt, wie spät es schon ist. Ich sollte wirklich gehen.«
»Bitte, ich wollte doch nur ...« Verdammt! »Ich wollte doch nur wissen, wozu es gut ist, ich hatte gehofft... na ja, Ihr wisst ja, wie gerne ich mit anderen Abteilungen zusammenarbeite, und da habe ich gedacht, wenn ich ernsthaft an meinem esoterischen Wissen arbeite, wäre das vielleicht öfter möglich, mehr nicht. Könntet Ihr mir nicht bitte verraten, wozu das Symbol gedient hat, das Ihr damals gesehen habt? Oder ob Ihr irgendwelche Bestandteile von diesem hier erkennt?«
Sie machte große Unschuldsaugen und zog eine Schnute. Nicht so dick aufgetragen, dass es aussah, als wollte sie ihn verführen, aber genug, um sein Mitgefühl zu erregen. Hoffte sie jedenfalls. Jeder Muskel in ihrem Körper spannte sich. Bitte ... bitte ...
Er senkte den Kopf und sah dann wieder auf. »Ich weiß eigentlich gar nichts darüber. Aber wir haben mächtigere magische Symbole, wie du weißt. Symbole, die sehr viel verlässlicher schützen. Manche von denen, die ich in meiner Jugend gelernt habe, waren nicht so si - nicht so narrensicher wie die, die wir heute einsetzen. Ich schätze dein Bestreben, dich weiterzubilden, aber ich fürchte, dieser zwielichtige Pfad führt dich nicht zu dem Ziel, nach dem du strebst.«
»Ich möchte nur wissen, wozu es gut ist, das ist alles. Ich habe nicht vor, es zu benutzen.«
Er seufzte und musterte sie einen Moment, während ihre immer noch trockenen Augen sich langsam klebrig anfühlten, so sehr musste sie blinzeln.
Endlich sprach er. »Es tut mir leid, meine Liebe. Ich kann nicht, nicht heute. Vielleicht ein anderes Mal. Also, guten Morgen. Fakten sind Wahrheit.«
»Fakten sind Wahrheit«, antwortete sie mechanisch, aber sie hörte weder ihre eigenen Worte, noch das Klappern seiner Schnallenschuhe auf dem Boden, als er das Sonderarchiv verließ und auf den Hauptsaal der Bibliothek zusteuerte.
Als er in der Ausbildung war, hatte er gesagt. Entweder hatte er sich verplappert, oder er hatte ihr einen Hinweis gegeben. Wie auch immer, es kostete sie nur ein paar Minuten, in der hintersten Ecke unter dem lächelnden goldenen Buddha die alten Ausbildungshandbücher aufzuspüren.
Der Buddha und die anderen religiösen Relikte gehörten auch zu den Gründen, weshalb sie so gern im Sonderarchiv arbeitete.
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