Seelenzorn
der Tatsache, dass es Tausende davon gab, hatte sie keine große Lust, sich hindurchzuwühlen. Es war vielversprechender, die beiden Fotos zu vergleichen und die Unterschiede herauszuarbeiten.
Die meisten Angestellten waren bereits gegangen. Chess stieg in völliger Stille die breite Marmortreppe in der Eingangshalle hinunter. Sie war nahezu die einzige in dem ganzen großen Saal aus Holz und Stein.
Auch die Bußübungen waren für heute beendet, obwohl am Pranger noch ein Mann stand, an Hals und Handgelenken gefesselt und mit Essensresten beworfen. Seine Strafe dauerte noch bis morgen an, vermutete sie. Diebstahl vielleicht, oder ... ja. Die roten Handschuhe verrieten den Ehebrecher.
Im Vorübergehen bedachte sie seinen Kirchenwächter mit einem Nicken. Ein eisiger Wind fuhr durch den Stoff ihres Mantels, während sie über verdorrtes Gras und Beton zu ihrem Wagen trottete, der allein ganz hinten an der Mauer des Parkplatzes stand.
Die Schlüssel steckten in ihrer Tasche. Sie waren noch warm von ihrem Aufenthalt im Gebäude. Sie steckte den Autoschlüssel ins Schloss, öffnete die Tür und erstarrte, als ihr eine starke Energie den Arm hinaufjagte. Schwarze Energie, heiß und zäh, die eine heftige Erregung in Brust und Unterleib aufwallen ließ. Ihr Herz machte einen Sprung, aber vor allem aus Angst. Das Finstere in dieser Kraft, das pure, unersättliche Böse, das direkt unter der brodelnden Oberfläche lauerte ...
Zwei Augen lagen auf dem Fahrersitz.
Augäpfel. Sie lagen reglos auf dem grauen Bezug. Und starrten sie an. Sie sahen sie. Und sie wussten, wer sie war. Sie wussten, dass sie mit dem Fall befasst war.
Und zu wem sie auch gehörten, sie waren nicht erfreut.
9
Die Eheschließung, die Vereinigung durch Liebe, Blut und
Magie vor den Augen der Kirche und der Gesellschaft,
ist ein heiliges Band. Wir binden uns an unseren Gatten -
in Liebe, in Hoffnung und in Verpflichtung.
Ratschläge für die Damenwelt , von Mrs Increase,
aus dem Vorwort des Ältesten Thomas
Als sie sich ihren verschlungenen Weg durch den kahlen Wald hinter dem Haus der Pyles bahnte, war sie froh, sich für schwarze Kleidung entschieden zu haben. Keine schwere Wahl, immerhin besaß sie gar keine weißen Klamotten, dennoch hätte sie sich äußerst unwohl gefühlt, wenn sie die Fassade hätte erklimmen müssen und dabei geleuchtet hätte wie ein Tintenfleck auf dem Tischtuch. Hinzu kam, dass sie sich fortwährend beobachtet fühlte.
Hoffentlich würde sie nicht lange so ohne Deckung herumlaufen müssen. Und hoffentlich hatte man nicht inzwischen das geknackte Schloss und das fehlende Kabel an Ardens Schlafzimmerfenster entdeckt.
Ein kalter Wind fuhr durch die kahlen Äste. Gut. Das würde ihre raschelnden Schritte übertönen, bis sie das Haus erreichte. Die Wachmannschaft drehte alle dreißig oder vierzig Minuten ihre Runde - sie hatte lange genug im Wald gewartet, um sie zweimal vorüberziehen zu sehen. Das schloss natürlich nicht aus, dass vielleicht mal einer nur so zum Spaß den Zeitplan über den Haufen warf. Aber sie konnte nicht die ganze Nacht hier draußen rumhocken und nur beobachten.
Heute Morgen vor dem Gottesdienst war es ihr gelungen, sich eine Ausziehleiter aus Kirchenbeständen zu besorgen. Dem äußeren Anschein nach war es nicht mehr als eine Metallröhre, aus der kurze Querstreben ragten. Sie zog sie hervor und stellte die Anzeige am Sockel auf vier Meter, bevor sie sich ins Gras kniete und den Knopf drückte.
Die Leiter fuhr auseinander, die Querstreben wuchsen aus den Seiten. Sie war nicht besonders stabil, nicht das sicherste Klettergerät, aber sie erfüllte ihren Zweck und schnurrte auch rasch wieder zusammen.
Chess klappte die Zinken am Sockel aus, rammte sie so fest sie konnte in den gefrorenen Boden und machte sich an den Aufstieg.
Die Leiter wackelte unter ihrer Last, hielt aber stand. Hoffentlich war das ein gutes Omen für den restlichen Abend.
Bei Ardens Fenster blieb ihr das Glück jedenfalls treu. Der untere Rahmen glitt widerstandslos hinauf. Chess wuchtete sich ins Zimmer und fuhr die Leiter ein, wobei sie sich gerade noch besann, den Griff zu wechseln, um sich nicht die Finger am heransausenden Sockel zu klemmen. Die Leiter wanderte wieder in den Rucksack; dafür holte sie verschiedene Kabel und Säckchen hervor. So gern sie auch Ardens Zimmer und vor allem den Kleiderschrank inspiziert hätte, zuerst musste sie ihre Schutzvorkehrungen treffen.
Gelächter ließ sie zusammenfahren,
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