Seepest
wie lange kennen wir uns nun schon? Zehn
Jahre, fünfzehn Jahre? Sie sind bestimmt nicht gekommen, um mit mir über die
Tagung im Comturey-Keller zu plaudern. Sie wollen etwas über meine beiden
Neuzugänge hier wissen, hab ich recht?« Flüchtig deutete sie zu den Tischen
hinüber, bevor sie kleinmädchenhaft kicherte. »Sie haben sich übrigens gestern
Abend recht achtbar geschlagen. Ach, was sag ich: Sie waren großartig. Wie Sie
das vorgetragen haben … ›Voll geil‹, würde ich sagen, wenn ich jünger wäre.
Apropos vorgetragen: Hab ich Ihnen eigentlich den schon
erzählt …?«
»Franzi, bitte! Ich hab jetzt weder die Zeit noch die
Nerven, mir Witze anzuhören.«
Sie legte den Kopf schräg und sah ihn scharf an. »Leo,
Leo! Gestern Abend waren Sie entschieden lockerer. Na ja, zwei Tote nach einer
Bootsexplosion, dazu dieser Ölteppich, das nimmt einen vermutlich ganz schön
mit … Also hören Sie, geht ganz schnell: Fragt der vorsitzende Richter:
›Erkennen Sie in dem Angeklagten den Mann wieder, der Ihnen Ihr Auto gestohlen
hat?‹ Sagt der Zeuge zweifelnd: ›Nach der Rede des Herrn Verteidigers bin ich
mir nicht mal mehr sicher, ob ich überhaupt ein Auto besessen habe!‹« Sie
lachte hell auf. »Na, wie finden Sie den?«
»Wollen Sie damit etwa sagen …?«, tat Wolf gespielt
empört, bevor er ebenfalls lachen musste. Doch schnell wurde er wieder ernst.
»Was ist nun mit Ihren … äh, Neuzugängen? Lässt sich schon etwas sagen?«
»Sie sind gut! Ich habe die beiden vor knapp zwei
Stunden erst hereinbekommen. Sie können von Glück sagen, dass ich zu diesem
Zeitpunkt überhaupt noch hier war. Eigentlich müsste ich längst wieder in
Tübingen sein.«
Sie ging zu einem der Tische und hob das grüne Laken
an, bevor sie sich wieder Wolf zuwandte. »Ertrunken sind sie jedenfalls nicht,
in der Lunge fand sich kein Wasser.«
»Was soll das heißen?«
»Dass sie schon tot waren, als der Kahn gesunken ist.
Die durch die Explosion verursachten Verletzungen haben in beiden Fällen zum
Tode geführt, etwas anderes kommt nicht infrage. Sie müssen sich zum Zeitpunkt
der Explosion in unmittelbarer Nähe der Bombe aufgehalten haben. Tut mir leid,
Leo, mehr kann ich Ihnen im Augenblick leider nicht sagen. Sie müssen schon
meinen Bericht abwarten.«
»Bis jetzt passt alles ganz gut ins Bild«, sagte Wolf
nachdenklich. »Sind Ihnen irgendwelche äußerlichen Merkmale aufgefallen, die
zur Identifizierung der beiden Männer beitragen könnten? Tätowierungen,
Operationswunden, alte Verletzungen, Zahnprothesen, so was in der Art?«
»Gut, dass Sie fragen«, antwortete sie gedehnt und
wies auf den vor ihr liegenden Leichnam. »In der Tat bin ich bei dem größeren
der beiden – dem mit den dunklen Haaren – auf zwei ältere Schussverletzungen
gestoßen, eine am linken Bein und eine an der Hüfte. Hier, sehen Sie selbst.«
Sie hob das Tuch, das den Körper des Mannes bedeckte.
Um sich den Anblick zu ersparen, hatte Wolf in weiser
Voraussicht einen Notizblock herausgezogen, auf den er nun einige Stichwörter
kritzelte. »So genau wollt ich’s gar nicht wissen«, brummte er.
»Außerdem«, fuhr Franzi Reichmann fort, »weisen die
Oberarme beider Opfer größere Tätowierungen auf, allerdings sind die Motive aus
verständlichen Gründen nicht mehr komplett erhalten und daher nicht genau
bestimmbar.«
In diesem Augenblick schwang die Pendeltür auf, und
ein großer, dunkelhaariger Mann im schwarzen Wollmantel betrat den Saal.
Staatsanwalt Schneidewind.
»Gut, dass ich Sie hier treffe, Wolf«, meinte er
betont freundlich und reichte Franzi Reichmann und Wolf die Hand. Wie zufällig
stellte er sich dabei mit dem Rücken zu den Seziertischen.
»Wusste gar nicht, dass wir verabredet waren, Herr
Staatsanwalt«, brummte Wolf. Es wäre gelogen, ihr Verhältnis als herzlich zu
bezeichnen, schon gar nicht nach dem nächtlichen Zusammentreffen draußen auf
dem See. Schneidewinds überhebliche Art und speziell sein schneidiger Tonfall
waren Wolf schon immer suspekt gewesen. Wie kam es, überlegte er, dass oftmals
gerade gebildete Leute unter maßlos übersteigertem Selbstbewusstsein litten?
Man brauchte sich diesen Mann nur anzuschauen – wie einem Modejournal entstiegen!
Edles Tuch, gekonnt geschnitten, da stimmte selbst das kleinste Detail –
abgesehen von der grellbunten Fliege, die Schneidewind unter dem Kinn spazieren
führte und die Wolf stark an einen Clown erinnerte.
Ȁh, verehrte Frau Dr. Reichmann,
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