Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Segel aus Stein

Segel aus Stein

Titel: Segel aus Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ake Edwardson
Vom Netzwerk:
nackten Arm. Sie schauderte, und er stand auf und holte eine Strickjacke, die über dem Schreibtischstuhl hing, und hüllte sie darin ein.
    Fotografien. Tote. Von beidem hatte er für sein ganzes Leben genug gesehen. Sie hatte ganz Recht. Es gab keine Ähnlichkeit zwischen den Lebenden und den Toten. Augen, die sahen, Augen, die nichts sahen. Eine oberflächliche Ähnlichkeit, ja, aber keine Ähnlichkeit. Alles, was er gesehen hatte, ein lebendes Gesicht, ein junges Mädchen, ein junger Mann, ein lächelndes Foto in einem Regal in einem Wohnzimmer, plötzlich zerschmettert von einer Tat, die unbeschreiblich war. Die Stille, die bis in alle Ewigkeit währen würde. Eine unwürdige Stille. Nichts, was man hüten und halten konnte. Dasselbe Gesicht, aber ohne Leben. Ich halte es nicht aus, dachte er jedes Mal, wenn er davor stand. Dies ist das letzte Mal.
    Danach kam immer wieder ein letztes Mal.
    Auf Lebenszeit hatte er genug gesehen. Eine Ewigkeit. Nein. Das Leben gehörte nicht der Ewigkeit, der Tod war die Ewigkeit, das Leben war die Unterbrechung zwischen den stummen Ewigkeiten. Für viele war es nur eine kurze Unterbrechung, er wusste es, denn er war dort gewesen, kurz nachdem die Ewigkeit wieder übernommen hatte.
    Und die Fotografien von den Toten. Auf seinem Schreibtisch lagen immer Fotos von den Toten. Was für ein Scheißjob, Fotografien von getöteten Menschen auf dem Schreibtisch, zerschmetterte Kieferknochen, leere Augenhöhlen, Münder wie Grubenschächte. Würgemale am Hals wie Tätowierungen.
    Und die Bilder von den ganz Stillen, Unbeweglichen. Die aussahen, als wären sie eingeschlafen. Solche Bilder waren häufig die schlimmsten.
    Er legte sie alle unter andere Bilder, von Häusern, Straßen, Fahrzeugen, Felsmassiven, irgendwas, oder unter Papiere, die mit Worten gefüllt waren, weil Worte aus der Distanz nicht so entsetzlich waren, nicht einmal aus einem Meter Abstand.
    Jetzt hörte er Kinderstimmen, Rufen, Lachen. Er sah einige Kinder durchs Fenster. Die nächste Pause. Fünfundvierzig Minuten vergehen schnell.
    Johanna Osvald schaute auf.
    »Ich muss da jetzt hinfahren«, sagte sie. »Es gibt ja nur eine Möglichkeit . herauszufinden . ob es Papa ist.«
    Winter nickte.
    »Sie erwarten vermutlich, dass ich komme«, sagte sie.
    »Hast du jemanden, der dich begleiten kann?«
    Sie schaute ihn an. Meinte sie ... nein, das glaubte er nicht. Dies ging sie, ihre Familie an. Es gab keinen Mord, keine Merkmale, keinen stumpfen Gegenstand.
    Dennoch gab es ein WARUM. Es hatte ihn bis hierher begleitet, auf der Fähre, vorher im Auto, in dem Gespräch mit Craig, in dem Gespräch mit Johanna. WHY.
    »Wo ist Erik im Augenblick?«, fragte er.
    »Ich weiß es nicht genau. Ich muss ihn anrufen.«
    Wieder nickte Winter.
    »Er kann es so machen, wie er will«, sagte sie. »Aber ich versuche rüberzufliegen, sobald es geht. Heute noch, wenn es möglich ist.«
    »Ich kann dir helfen«, sagte Winter und wählte eine Nummer auf dem Telefon, das auf dem Schreibtisch zwischen ihnen stand.
    Sie könnte es schaffen. Die nächste Fähre ging erst um 11.40 Uhr, aber das war zu spät, um das Flugzeug von Landvetter nach Heathrow zu erreichen. Dort musste sie umsteigen.
    »Das ist der Nachteil, auf einer Insel zu wohnen«, hatte sie nach zwei Telefongesprächen gesagt.
    Aber es gab noch eine andere Möglichkeit, das Festland zu erreichen.
    Winter hatte bei der Leitzentrale angerufen, die ihn mit der Wasserschutzpolizei von Nya Varvet verbunden hatte.
    »Bei Vargö ist ein Patrouillenboot von uns«, hatte der Kollege gesagt. »Die haben sowieso nichts zu tun.«
    »Bist du sicher, dass du sofort fahren willst?«, hatte Winter Johanna mit der Hand auf der Muschel gefragt.
    Sie hatte hastig genickt, schon fast unterwegs nach Hause, um ein paar Sachen in eine Tasche zu werfen.
    Auf der Überfahrt fragte er nach Axel Osvald. Das Boot fuhr schnell, schneller, als Winter es in diesen Gewässern für möglich gehalten hätte. Keine Sirenen, aber eine selbstbewusste Geschwindigkeit und selbstverständlich Vorfahrt.
    »Er ist nicht zum ersten Mal in Schottland gewesen, um nach seinem Vater . deinem Großvater zu suchen«, sagte Winter.
    »Nein, das hab ich doch schon gesagt.«
    »Was hat er von seinen früheren Reisen erzählt?«
    »Nicht viel, fast nichts.«
    »Warum nicht?«
    »Mein Vater war ein Mensch, der nicht viel redete«, sagte sie.
    Winter fiel auf, dass sie von ihrem Vater in der Vergangenheit sprach. Es schien ihr selber nicht

Weitere Kostenlose Bücher