Segeln im Sonnenwind
lieber Freund und Ehemann Dr. Jubal Harshaw erzählte mir (was die Geschichtsbanken von Boondock bestätigen), daß auf seiner Zeitlinie (Chiffre »Neil Armstrong«) die Japanpolitik gänzlich anders verlief – eher hilfreich als grob gegenüber dem besiegten Feind.
Aber auf beiden Zeitlinien erwies sich die jeweilige Politik als katastrophal für die Vereinigten Staaten.
In den Jahren von 1952 bis 1982 fand ich nie die Gelegenheit, meine Kenntnisse der japanischen Sprache und Literatur zu nutzen. Vierundzwanzig Jahrhunderte später war dieses Wissen jedoch Anlaß für Jubal, mich zu einem seltsamen Auftrag zu überreden, nachdem ich von der Verjüngungstechnik zum Zeitkorps gewechselt war. Der Ausgang des langen und bitteren Krieges zwischen den Vereinigten Staaten und dem Japanischen Kaiserreich erwies sich auf allen Zeitlinien, die der Kreis des Ouroboros überwacht, als katastrophal für beide Seiten – sowohl auf den Linien, in denen Amerika »siegte«, als auch auf denen, die einen »Sieg« der Japaner verzeichneten (wie Zeitlinie sieben »Fairacres«, auf der der Kaiser und der Reichsführer den amerikanischen Kontinent entlang des Mississippi unter sich aufteilten).
Die Zeitkorps-Mathematiker unter Führung Libby Longs und ihre Bank von Computersimulatoren unter Leitung von Mycroft Holmes (dem Computer, der auf Zeitlinie drei die Revolte auf Luna anführte) versuchten zu ermitteln, ob es nicht möglich war, eine revidierte Geschichte zu erzeugen, in der der japanisch-amerikanische Krieg von 1941-45 nie stattgefunden hat. Und hätte das, falls es sich als machbar erwies, vielleicht sogar die stetige Verschlechterung des Zustandes der Erde nach diesem Krieg verhindert, wie sie auf allen erforschten Zeitlinien zu verzeichnen ist?
Zu diesem Zweck mußte das Zeitkorps Agenten vor dem Jahr 1941 sowohl in Japan als auch den Vereinigten Staaten einsetzen. Die Vereinigten Staaten stellten kein Problem dar, da wir in Boondock über umfangreiche Unterlagen zu ihrer Sprache, Geschichte und Kultur im zwanzigsten Jahrhundert gregorianischer Zeitrechnung verfügten, ebenso wie über Personen, die in zeitlicher Nähe zu den anvisierten Daten selbst Erfahrungen in dieser Kultur gemacht hatten: Lazarus Long, Maureen Johnson, Jubal Harshaw, Richard Campbell, Hazel Stone, Zeb Carter, Hilda Mae Burroughs, Deety Carter, Jake Burroughs und andere – besonders Anne, eine »Faire Zeugin«. Ich weiß, daß sie gesandt wurde. Und wahrscheinlich noch mehr Leute.
Was Leute anging, die mit der japanischen Sprache und Kultur des zwanzigsten gregorianischen Jahrhunderts vertraut waren, herrschte absolute Fehlanzeige. Wir hatten mit Dong Xia und Marcy Choy-Mu zwar zwei Agenten chinesischer Abstammung, die Japanern ähnlich sahen, aber keine Ahnung von deren Sprache oder Kultur hatten.
Ich konnte mich unmöglich für eine Japanerin ausgeben – man findet etwa so viele rothaarige Japanerinnen wie pelzige Fische –, aber ich konnte Japanisch sprechen und schreiben, zwar nicht wie eine Einheimische, wohl aber wie eine gründlich geschulte Ausländerin. Und so gelangten wir zu einer vernünftigen Entscheidung: Ich würde als Touristin einreisen, die sich der Mühe unterzogen hatte, sich vor Antritt ihres Urlaubes in Nippon etwas von der Sprache, Kultur und Geschichte des Landes anzueignen.
Wenn sich ein Tourist so viel Mühe gibt, wird er stets willkommen geheißen, zumindest dann, wenn er sich auch noch an die landesüblichen Formen der Höflichkeit hält. Was liegt näher, als die Forderung aufzustellen, alle Touristen sollten sich so verhalten, aber so etwas ist nun einmal schwierig und erfordert viel Zeit und Geld. Mir fällt es leicht, Sprachen zu lernen, und ich genieße es förmlich. Mit siebzig beherrschte ich fünf moderne Sprachen, die eigene eingeschlossen.
Damit blieben über tausend übrig, die ich nicht beherrschte, sowie etwa drei Milliarden Menschen, mit denen ich mich nicht verständigen konnte. An dieser Aufgabe wäre jeder gescheitert – eine wahre Tantalusqual.
Für meine Aufgabe reichten meine Fähigkeiten allerdings, und so setzte mich das Zeitkorps in Macao ab, wo Bestechung selbstverständlich war und man mit Geld alles erreichte. Ich war finanziell üppig ausgestattet und führte obendrein drei Pässe mit, einen kanadischen, einen amerikanischen und einen britischen.
Ich nahm die Fähre nach Hongkong, einer weitaus ehrlicheren Stadt, in der Geld allerdings trotzdem hohes Ansehen genoß. Dort erfuhr ich,
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