Segeln im Sonnenwind
diesem mittleren Westen. Die Konflikte und Widersprüche führten dazu, daß die meisten Howards schließlich die organisierten Religionen verließen oder ihnen bloße Lippenbekenntnisse zollten, wie Brian und ich es taten, bis wir Kansas City in den späten Dreißigern verließen.
Soweit ich weiß, gibt es in Boondock oder auch sonstwo auf Tellus Tertius keine organisierten Religionen. Frage: Handelt es sich dabei um einen unausweichlichen Entwicklungsschritt der Menschheit bei ihrem Streben nach wahrer Zivilisation? Oder ist hier der Wunsch der Vater des Gedankens?
Oder bin ich 1982 gestorben? Boondock unterscheidet sich so vollkommen von Kansas City, daß es mir schwerfällt zu glauben, beide befänden sich im selben Universum. Jetzt, wo ich von jeder Verbindung dorthin abgeschnitten in etwas sitze, das mir wie ein von seinen Insassen geleitetes Irrenhaus vorkommt, fällt es mir leicht zu glauben, daß sich 1982 ein Verkehrsunfall für eine uralte Frau doch als tödlich erwies… und daß meine Träume von merkwürdig verschiedenen Welten nur das Delirium des Sterbens darstellen. Liege ich, bis unter die Schädeldecke voller Medikamente, auf der Intensivstation eines Krankenhauses in Albuquerque, während sich die Leute überlegen, ob sie den Stecker ziehen sollen? Warten sie auf die Genehmigung von Woodrow? Wenn ich mich recht entsinne, habe ich ihn in meiner Brieftasche als »nächsten Angehörigen« aufgeführt.
Sind »Lazarus Long« und »Boondock« nur senile Phantasievorstellungen?
Ich muß Pixel danach fragen, sobald er das nächste Mal zu Besuch kommt. Sein Englisch ist nicht besonders, aber ich habe sonst niemanden.
Noch ehe wir unser neues Haus einrichteten, taten wir etwas Hocherfreuliches: Wir holten unsere Bücher aus dem Lagerhaus. In der kleinen Keksdose, die wir bis dahin bewohnt hatten, hatte der Platz lediglich für ein paar Dutzend Bände gereicht, und das auch nur, weil wir diese wenigen Kostbarkeiten ins oberste Küchenregal packten – eine Stelle, die ich nur erreichte, wenn ich auf einen Hocker stieg. Das wiederum riskierte ich nicht, wenn ich ein Kind trug. Einmal wartete ich drei Tage lang auf Brians Rückkehr aus Galena, um ihn zu bitten, daß er mir mein Golden Treasury herunterholte. Ich konnte es sehen, kam aber nicht heran. Als er dann endlich eintraf, vergaß ich es.
Ich hatte zwei Kisten voller Bücher im Lagerhaus, Brian noch mehr. Obendrein hatte ich Kisten über Kisten von Vaters Büchern geerbt. Als er wieder zur Armee ging, schrieb er mir, er hätte sie verpackt und ins Kansas City Storage and Warehousing liefern lassen. Die Quittungen lagen seinem Brief bei. Seine Bank war angewiesen worden, die laufenden Lagerkosten zu begleichen. Trotzdem, so schrieb er, würde er sich freuen, wenn ich den Büchern ein neues Heim geben würde. Eines Tages würde er vielleicht einige von ihnen zurückfordern, aber bis dahin sollte ich sie als meine eigenen ansehen. »Bücher wollen gelesen und geliebt werden, nicht gelagert.«
Also holten wir unsere gedruckten Freunde aus dem Kerker, obwohl wir bislang noch keine Bücherregale hatten. Briney besorgte Balken und Ziegelsteine und improvisierte Regale… und ich erfuhr, was meinem Gatten noch besser gefiel als Sex.
Bücher nämlich.
Fast alles an Büchern, aber was ihn an jenem ersten Wochenende mit den Büchern fesselte, waren die Essays von Professor Huxley, auf die ich keinen Blick verschwendete, da mir Vaters Mark-Twain-Sammlung in die Hände gefallen war. Da hatte ich doch tatsächlich zum erstenmal seit Mai 1898 wieder die Bücher von Mr. Clemens vor mir, eine Komplettausgabe bis zu diesem Zeitpunkt, überwiegend Erstausgaben, vier davon von Mr. Clemens und »Mark Twain« signiert. Das war an jenem phantastischen Abend im Januar 1898 geschehen, als ich darum gekämpft hatte wachzubleiben, um keins von Mr. Clemens' Worten zu versäumen.
Vielleicht zwei Stunden lang stießen Brian und ich uns gegenseitig immer wieder mit den Ellbogen an und sagten: »Hör dir das an!«, um es gleich darauf laut vorzulesen. Es stellte sich heraus, daß Brian noch nie »Der berühmte Frosch der Grafschaft Calaveras« oder »Der Mann, der Hadleyburg korrumpierte« gelesen hatte. Ich war erstaunt. »Schatz, ich liebe dich zwar, aber wie hast du nur den Schulabschluß geschafft?«
»Keine Ahnung. Lag wohl am Krieg.«
»Na ja, dann muß ich dir noch was beibringen. Wir fangen mit dem Yankee aus Connecticut an König Artus' Hof an.«
»Das habe ich
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