Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition)
Zeichen Gottes, lagen alle Antworten auf der Hand.
Sichtbar.
Das Portal der Kirche wurde aufgestoßen, und es schien ihr, als würde das Entsetzen der Wartenden sich zu einem Aufschrei vereinen. Selbst die Berittenen wichen erschrocken beiseite. Der Baron hatte den Arm um den Hals des Pfarrers gelegt und zerrte ihn hinter sich her.
»Du wolltest ja nicht hören, aber ich habe es dir gesagt«, brüllte der Baron und ähnelte dabei mehr einem Tier denn einem Menschen. Die Umstehenden schien er nicht wahrzunehmen. »Du weißt es nicht, aber du hast ihn, den bösen Blick. Der Teufel spricht aus dir. Frevlerisch ist das, sich im Gewand eines Pfaffen zu verstecken«, brüllte er weiter und stieß Vater Jeunet von sich. Der alte Mann stürzte zu Boden und blieb regungslos liegen.
Niemand rührte sich.
Jedem schien das Herz gefroren, eine Kälte, die bis in die Glieder reichte und auch die kleinste Bewegung unmöglich machte. Nur die Blicke der Wartenden flogen umher. Zum Baron, der breitbeinig über Vater Jeunet stand. Zum gekrümmten Leib, der im Staub lag. Zu dem, der am Nächsten stand. Beweg dich, schien ein jeder den anderen in Gedanken anzuflehen. Doch niemand wagte es. Wer sollte es auch wagen, sich diesem Mann in den Weg zu stellen?
Er war der Lehnsherr.
Ihr Herr und Richter.
Ihr Schutzschild gegen das Böse.
Die Zeit schien sich zu dehnen, als der Hauptmann, dicht gefolgt von Yann und dem hinterdreinhinkenden Mathis, um die Ecke der Kirche gerannt kam.
Mathis!, rief es in Catheline. Wo warst du? So abgrundtief der Schmerz der letzten Tage gewesen war, so bodenlos war nun die Erleichterung, ihn zu sehen, ihn in der Nähe zu wissen.
Doch es war nicht Mathis, der dem Albtraum ein Ende setzte. Es war der Hauptmann. Er packte den Baron an der Schulter, ungewöhnlich hart, nahezu respektlos und riss ihn mit sich.
Als wäre ein böser Bann gebrochen, begann Vater Jeunets Hand zu zucken. Einen Atemzug später bewegte er stöhnend seinen Kopf und versuchte, sich aufzurichten. Yann und Mathis hatten ihn inzwischen erreicht und halfen ihm, sich aufzusetzen.
Ohne sich umzusehen, verließen der Baron und sein Gefolge das Dorf. Auch die Knechte auf dem Wagen trieben die Pferde an. Auf der Ladefläche lag ein Tuch, das sich kurz anhob, kaum dass sich der Wagen in Bewegung setzte, und freilegte, was es verbergen sollte: Ania.
Sie war tot.
Aus dem Weg.
Für immer verschwunden.
Und Catheline spürte nur Verzweiflung und Leere.
Marie war die Erste, die sich aus ihrer Starre löste und zu Vater Jeunet eilte, dann drängten die anderen hinterher. Standen dicht an dicht wie verängstigte Schafe in einer Gewitternacht.
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis erneut Berittene im Dorf auftauchen werden, um mich zu holen, dachte Catheline. Um mich zum Baron zu führen, der längst ein Urteil gefällt hat. Dersicher einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat, um mich zur Schuldigen zu machen. Ein teuflisch gut durchdachter Plan, und ich habe durch meine Unbeherrschtheit den Anlass dazu geliefert. Es ist der beste Zeitpunkt und sicherlich auch der schlechteste, um zu verschwinden. Für eine Weile unauffindbar zu sein.
Sie beobachtete wehmütig die Menschen, die ihr nahe waren. Mathis. Vater Jeunet. Yann. Marie. Martin. Und all die anderen. Gern wäre sie zu ihnen gelaufen, hätte sich mitten hinein ins Gedränge geschoben, dorthin, wo sie geschützt und gewärmt wäre. Langsam löste sie ihren Blick. Wohin ihr Verschwinden führen, wie die Lösung ihres Problems aussehen würde, wusste sie nicht. Aber es war vorerst besser, all dem, was nun seinen Lauf nahm, auszuweichen.
In einem großen Bogen umrundete sie den an die Kirche angrenzenden Friedhof, kletterte über die Mauer und schlich zur Rückseite der Pfarrei. Bald würde Vater Jeunet hierhergebracht werden, bis dahin musste sie verschwunden sein. Ihr wurde flau im Magen, als sie daran dachte, den alten Mann, der sicherlich Blessuren bei der Auseinandersetzung mit dem Baron davongetragen hatte, alleinzulassen. Aber es ging nicht anders, andere würden sich seiner annehmen.
Hurtig warf sie den wollenen Umhang, eine Decke und ein Brot in ihre Umhängetasche, ergriff einen Krug Wasser und sah kurz zum Fenster hinaus. Noch immer standen alle fassungslos beisammen, gestikulierten und ließen ihrer Wut und Angst freien Lauf. Sicherlich werden nun auch die letzten Zweifler begreifen, wer der Täter ist, erhoffte Catheline sich und schrak zusammen, als sie die Tür
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