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Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition)

Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
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vorbeigeschaut. »Geh und steh deiner Schwester bei. Aber zum Einbruch der Dunkelheit bist du, wie es sich gehört, wieder im Schloss, in der Kammer. Und bleib auf den großen Wegen.«
    Nach dem ersten Hahnenschrei hatte Jola ihr Morgengebet gesprochen, sich das Gesicht gewaschen, angekleidet und Ania und Émelie zum Dank umarmt, dass diese ihre Arbeit auf sich nahmen.
    Die Luft des Morgens war klar und kalt, und endlich hatte es aufgehört zu regnen. Jola lief den Weg zur Kirche entlang, und als sie auf die Höhe des Friedhofs kam, sah sie die Männer. Am Rand der Mauer hoben sie das Grab aus. Jola blieb stehen und ging auf die Zehenspitzen. Knietief war das Grab bereits. Anscheinend der richtige Moment für die Männer, mit der Arbeit innezuhalten. Sie stellten sich neben die frisch ausgehobene Erde, bekreuzigten sich und stützten sich auf ihre Spaten. Warteten und nahmen dann erst die Arbeit wieder auf.
    Sehr gut, dachte Jola. Dreimal müssen sie in ihrer Arbeit innehalten, dann können wir sicher sein, dass Raymond nicht zum Wiederkehrer wird und die ewige Ruhe findet. Grund genug, aus dem Grab zu steigen und den Mord zu rächen, hätte er ja.
    Am Fenster der Pfarrei konnte Jola Catheline erkennen, die den Männern bei ihrer Arbeit zuschaute. Der Anblick der Schwester ließ Jola lächeln, eines der Lächeln, die das Glück in Wellen durch den Leib schoben. Doch heute währte dieses Gefühl nur einen Wimpernschlag lang, dann kehrte die Angst vor der Beisetzung leichtfüßig zurück.
    Catheline hat es als Haushälterin gut getroffen, dachte Jola, als sie die Tür zur Pfarrei öffnete. Oft war ihr dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, seit der neue Küchenmeister das Regiment übernommen hatte. Wärme schlug ihr entgegen, und es roch nach Fleischeintopf. Jola betrat die Küche, wo die Schwester noch immer am Fenster stand. Sie kam ihr entgegen, umarmte sie und ließ sie nicht wieder los.
    »Was machst du denn hier? Bist du wegen Raymond gekommen?«Catheline schob Jola von sich. »Du darfst wirklich dabei sein? Du hast dich nicht wieder davongeschlichen wie beim letzten Johannisfest? Du weißt noch, was das für …«
    Jola hob den Finger und legte ihn Catheline auf den Mund. »Ich habe gefragt, und ich darf heute dabei sein. Natürlich bin ich auch wegen Raymond hier, aber genau genommen bin ich deinetwegen gekommen. Irgendwie habe ich geahnt, wie sehr dich all das mitnimmt.«
    Catheline legte die Arme um ihren Leib, als wolle sie sich selbst umarmen. »Ja, es ist entsetzlich. Sie werden Raymond an der Mauer beisetzen, ganz am Rand. Dort, wo die ungetauften Kinder liegen.«
    »Warum?«
    Catheline zuckte die Schultern. »So machen sie es halt, wenn jemand eines unnatürlichen Todes stirbt.«
    »Du darfst das Wort nicht im Munde führen. Beschreie den Gevatter nicht noch.«
    Catheline biss sich auf die Lippen. »Wie auch immer. Am Rand liegt er, nicht bei seiner Familie. Das wusste ich bisher nicht, aber ich habe es bereits bei Avels Beisetzung erfahren. Bei Gabin war es nicht anders, Eve hat Vater Jeunet fast die Augen ausgekratzt, aber trotz allem liegt er neben Raymond.« Sie drehte sich zu Jola um. »Erst hat Gabin Avel bei der Totenwache abgelöst, und nun wird Gabin diese Aufgabe an Raymond übergeben. Sein Geist wird es sein, der auf dem Friedhof für Ruhe sorgt, bis der Nächste beigesetzt wird und ihn ablöst. Ich befürchte, dass es nicht lange dauern wird, bis …«
    »Schweig still«, fiel Jola ihr ins Wort. Sie schüttelte heftig den Kopf, entsetzt über den Gemütszustand der Schwester. »Setz dich«, sagte sie streng und deutete auf den Schemel, der am Tisch stand. »Wo ist der Pfarrer?«
    »Er ist draußen in der Kapelle. Blanche hat sich bereit erklärt,Raymond ins Leichentuch einzunähen, bevor sie ihn in den Sarg legen. Man konnte an Raymond keine Waschung mehr vornehmen oder ihn aufbahren. Da war nicht mehr viel übrig.«
    Es schmerzte, so fest schlug Jola mit der Hand auf den Tisch. »Catheline, was ist mit dir los? So widerlich hart kenne ich dich nicht. Hör auf damit!«
    »Ich kann nicht mehr, Jola.« Es war nicht mehr als ein Flüstern. »Erst läuft mir der Mann weg, und mein künftiges Leben ist auf eine Abfolge von Putzarbeiten zusammengeschrumpft. Jetzt zerfällt auch noch das Leben um uns herum. Und niemand kann etwas dagegen tun. Wir warten wie verschreckte Hasen, deren Bau verschüttet ist, warten schutzlos und zitternd darauf, dass der Fuchs uns wittert, uns reißt und all dem hier

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