Sehnsucht der Unschuldigen
gräßlichen Szene vor aller Leute Augen hatte sie sich kein einziges Mal gerührt. Ja, sie ging nicht einmal ans Telefon.
Das war alles zutiefst beunruhigend, zumal sie äußerst nachtragend war und heimtückisch wie eine Schlange zubeißen konnte. Die lange Wartezeit auf den längst fälligen Angriff machte Tucker mehr als nervös.
Er stapelte die Umschläge mit Sonderbriefmarken für Dwayne, weil er sie gerne an seine Kinder weiterschickte, und stieß auf einen fliederfarbenen und deze nt parfümierten Umschlag, der nur von einem Menschen stammen konnte.
»Tante Lulu!« Er grinste von einem Ohr zum anderen. Seine trüben Gedanken waren wie weggeblasen.
Lulu Boyston Longstreet, eine Cousine von Tuckers Großvater, gehörte dem in Georgia lebenden Zweig der Familie an. Über ihr Alter ließ sie die Leute gern spekulieren. Allgemein wurde sie für Mitte siebzig gehalten, behauptete jedoch seit Jahr und Tag, sie sei fünfundsechzig. Sie war steinreich, maß in ihren Schuhen mit stets großzügigen Absätze n kümmerliche einsfünfzig und war das verrückteste Huhn im ganzen Land.
Tucker betete sie an. Auch wenn der Brief ›an meine Lieben Longstreets‹ adressiert war, riß Tucker ihn sofort auf. Er wollte nicht warten, bis seine Geschwister sich irgendwann wieder einmal blicken ließen.
Er überflog den ersten Absatz des mit rosa Tinte vollgekritzelten Bogens und stieß einen Jubelschrei aus. Tante Lulu wollte ihnen einen Besuch abstatten.
Sie drückte es immer so aus, ließ dabei aber offen, ob sie nur zum Essen vorbeischauen oder einen ganzen Monat bleiben wollte. Tucker hoffte inbrünstig, letzteres würde der Fall sein.
Etwas Abwechslung hatte er dringend nötig.
Bei ihrem letzten Besuch hatte Lulu einen Riesenkarton voller Eistörtchen mitgebracht. Dazu hatte sie einen Papierhut mit einer Straußenfeder getragen. Eine ganze Woche lang hatte sie das lächerliche Ding nicht abgenommen, nicht einmal in der Nacht. Sie feiere ein paar Geburtstage, hatte sie zur Erklärung verkündet. Irgend jemand werde schon Geburtstag haben.
Tucker leckte sich die Erdbeermarmelade von den Fingern und warf den Rest seines Toastbrots für Buster auf den Boden.
Die übrige Post wollte er später sichten. Zuallererst mußte er jetzt Delia mitteilen, daß sie das Gästezimmer für Tante Lulu herrichten solle.
Doch in dem Moment, in dem er die Tür aufstieß, vernahm er den Motor von Austin Hatingers Laster. In ganz Innocence gab es nur ein Fahrzeug, das ein derart obszönes Knallen von sich gab. Tucker widerstand dem ersten Impuls, sich im Haus zu verbarrikadie ren, und drehte sich wieder um. Freilich machte er sich schon jetzt auf einiges gefaßt.
Inzwischen sah er schwarze Auspuffgase zwischen den Magnolien aufsteigen. Seufzend zog Tucker eine Zigarette aus der Tasche, brach die Spitze ab und wartete.
Er war noch nicht einmal zum ersten Zug gekommen, da hielt der Laster schon vor dem Haus, und Austin zwängte sich aus der Kabine. Als erstes spuckte der Mann auf den Kiesweg. Zu seinen Füßen bildete sich eine widerwärtige gelbe Lache. Austin war so sperrig und verwittert wie sein alter Ford. Allerdings hielten ihn nicht Bindfaden und Spucke zusammen, sondern Muskeln und Sehnen. Unter dem speckigen Pflanzerhut saß ein Gesicht, das so durchfurcht war wie die Rinde eines Baums.
Tiefe Linien gingen von seinen walnußbraunen Augen aus, gruben sich in wettergegerbte Wangen und umrahmten seinen harten, nie lächelnden Mund.
Kein einziges Härchen lugte unter dem Hut hervor. Austin fuhr jeden Monat zum Friseur und ließ sich einen Bürstenschnitt verpassen. Vielleicht, so spekulierte Tucker des öfteren, stellte das eine Art nostalgische Erinnerung an seine Zeit bei der Armee dar. Den Namen seines Corps,
Semper Fi,
hatte er unter die amerikanische Fahne auf den bei jeder Bewegung hervorquellenden Bizeps tätowieren lassen. Austin, der einen bei jeder Gelegenheit darauf aufmerksam machte, daß er ein gottesfürchtiger Christ war, hatte sich zeitlebens nie mit frivolen Dingen wie nackten Mädchen abgegeben.
Tucker stellte erleichtert fest, daß Austin sein Gewehr auf dem Beifahrersitz hatte liegen lassen. Er hoffte, dieses kleine Zeichen der Höflichkeit bedeutete ein gutes Omen.
»Austin.« Tucker stieg eine Stufe hinab – er wollte schließlich nicht unfreundlich wirken.
»Longstreet!« Die Stimme erinnerte an einen über Beton rollenden rostigen Nagel. »Wo zum Teufel steckt mein Mädchen?«
Tucker hatte mit allem
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