Sehnsucht FC Bayern
unmöglich. Eine knappe Entscheidung, aber ich mag kein wehleidiges Nachkarten. Weder beim Fußball noch im Privaten. Doch wie sollte es mit mir weitergehen? Vom Unterricht war ich ab Mitte März bis zum Ende des Schuljahres befreit. Was für eine Ironie, zehn Monate nach meinem Schwänzen wegen des Europacup-Endspiels. Diesmal wollte ich zum Unterricht, brauchte aber nicht mehr hin. Immerhin lag mir für Juli 1988 inzwischen der Einberufungsbescheid zur Bundeswehr vor. Das verschaffte mir etwas Luft in der Frage, wie es mit mir denn überhaupt beruflich weitergehen würde. Übergangsweise sollte ich bis dahin für drei Monate ein Praktikum bei jenem Versicherungskonzern antreten, bei dem ich bereits mehrfach in den Schulferien gejobbt hatte. Ohne es zu ahnen, eine Entscheidung fürs Leben …
Nachdem ich meinen Eltern die Nachricht von der Nichtzulassung zur Abiturprüfung gebeichtet hatte, war die Atmosphäre etwas angespannt. Und das ist jetzt hier mal ausnahmsweise beschönigend formuliert. Alles durfte passieren. Wahrscheinlich hätte ich aus Schalke auch mit dem Kopf unterm Arm nach Hause kommen dürfen. Aber nicht mit dieser Nachricht! Meine Eltern müssen sich gefühlt haben wie Bayern-Präsident Wilhelm Neudecker, als ihm 1963 mitgeteilt wurde, dass der Verein nicht in die Bundesliga aufgenommen wird.
Die Tage bis zum Praktikumsbeginn wollte ich nur noch weg. Weg von zu Hause und erst recht sehr weit weg von meiner Schule in Köln. Was sollte ich tun? Zu Hause bleiben und die zehn Tage mit dem Wissen herumsitzen, dass sich meine Jahrgangskollegen intensiv auf ihre Abiturprüfungen vorbereiten? Ich beschloss, nach München zu fahren. Ein Heimspiel gegen den 1. FC Köln bot einen konkreten Anlass und gab mir Gelegenheit, gründlich über mich nachzudenken. Über meine turbulente Schulkarriere, meine private Situation und über meine berufliche Zukunft. Damit hatte ich genug zu tun. Aus Kostengründen beschloss ich zu trampen. Das erste Mal überhaupt. Und dann gleich nach München? Das konnte heiter werden. Und das wurde es auch. Von einem Kumpel ließ ich mich zur nächstgelegenen Autobahn-Raststätte auf der A3 bei Siegburg bringen und quatschte dort Alleinreisende an. Das klappte ausgesprochen gut.
»Sie fahren Richtung Frankfurt?«
Die Frage war geschickt. Der Angesprochene konnte doch nur mit »ja« antworten. Es sei denn, er war Geisterfahrer. Schließlich lag die Raststätte in Richtung Frankfurt.
»Können Sie mich bis zur nächsten Raststätte mitnehmen?«
Wer sagt da schon nein? Mit meinem Junge-Unions-Scheitel sah ich wahrscheinlich viel zu brav aus, als dass man mir diesen kleinen Gefallen hätte abschlagen können. Natürlich wollte ich nicht nur bis zur nächsten Raststätte mitgenommen werden. Aber es war schon mal ein Anfang. Die Methode hatte den Charme, dass ich mir meine Fahrer und ihre Autos selber aussuchen konnte. Alleinreisende Frauen brauchte ich gar nicht erst fragen. Die meisten hätten sich ohnehin nicht getraut. Bei Geschäftsreisenden, in ihren schicken Dienstwagen, sah das schon ganz anders aus. Die waren so oft unterwegs, dass sie sich langweilten und froh waren, wenn ihnen mal einer unkritisch zuhörte. Genau da setzte ich an.
Im Grunde genommen ist es recht simpel. Erst schafft man Gemeinsamkeiten (»Mein Onkel fährt auch so einen Mercedes«) und dann schwenkt man über auf den Job (»Was machen Sie eigentlich beruflich?«). Es ist erstaunlich, wie gerne die Menschen von ihrem Beruf reden. Sei es aus Frust, aus Routine oder aus Stolz. Und da sich logischerweise keiner in genau dieser Tätigkeit und in exakt diesem Umfeld so gut auskennt wie sie selbst, widerspricht ihnen auch niemand. Und ich schon gar nicht! Ich wollte ja weiter mitgenommen werden. So fuhren wir an einer Raststätte nach der anderen vorbei, ohne dass ich auszusteigen brauchte. Nach fünf Stunden und mit nur drei verschiedenen Autos hatte ich die 600 Kilometer recht flott bewältigt.
Drei Tage hielt ich mich in der Stadt auf. Natürlich führte mich der Weg auch zur Säbener Straße. Ohne Training vermittelte das verregnete Vereinsgelände an einem schnöden Donnerstag-Spätnachmittag eine melancholische Atmosphäre. Ich war der einzige Besucher. Mir war das sehr recht. Die Stille an diesem Ort traf genau meine Stimmung. Manchmal reicht es einfach nur, für sich allein an einem ganz bestimmten Ort zu sein. Egal was passiert. Für mich, als weit entfernt wohnenden Bayern-Fan, war die Säbener Straße so
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