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Sehnsucht nach Leben

Sehnsucht nach Leben

Titel: Sehnsucht nach Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margot Kaeßmann
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in ein Gespräch über die eigenen Sehnsüchte nach erfülltem Leben vertiefen können – mit sich selbst, mit anderen, mit Gott.
Sehnsucht nach
LEBEN

    In ihrem Lied „The Ballad Of Lucy Jordan“ singt Marianne Faithfull von einer Frau, die mit siebenunddreißig Jahren erkennt, dass ihr Leben in eine Sackgasse geraten ist. Sie hat alles, was gesellschaftlich erstrebenswert scheint: Haus, Ehemann, Kinder. Aber niemals wird sie in einem offenen Wagen durch Paris fahren und den warmen Wind in ihren Haaren spüren. Diese Paris-Fahrt steht für all die Wünsche, Sehnsüchte, Hoffnungen auf Leben, die sie früher hatte. Jetzt kann sie wählen, ob sie ihren Tag damit zubringt, dass sie das Haus aufräumt oder die Blumen neu arrangiert – „she could clean the house for hours or rearrange the flowers ...“. Stattdessen steigt sie auf das Dach und springt ...
    Mich berührt dieses Lied sehr, auch wenn es schlicht ein Popsong ist. Es steht für all die Sinnlosigkeit und Leere in so vielen Leben. Es verleiht dem Gefühl Ausdruck: Ich kann meine Chancen nicht nutzen . Oder: Ich habe mich in eine ausweglose Situation begeben, alle meine Träume sind eigentlich ausgeträumt. Oder: Ich habe eine falsche Richtung eingeschlagen, mich in eine Sackgasse hineinmanövriert. Das Leben erscheint im Rückblick oft wie ein Weg, auf dem wir immer wieder entscheiden mussten, welche Abzweigung wir nehmen. Manche Entscheidung wird sich im Nachhinein als richtig erweisen, manche aber auch als falsch. Es gibt Menschen, die das in innerem Frieden annehmen können; andere hadern damit.
    Leben kann natürlich „sinn-voll“ sein, wenn ich mich wie Lucy Jordan ganz der Kindererziehung widme, für meine Familie ein Heim schaffe. Für viele ist das ein erfülltes Leben und sie sind rundherum zufrieden. Andere gehen völlig auf in ihrem Beruf. Ein Amerikaner sagte mir, als ich ihn nach seinen Lebenszielen fragte, am Ende seiner Tage wolle er zurückblicken können und sagen: „Ich war ein guter Vater, Ehemann und Bürger dieses Landes.“ Dann wäre er zufrieden. Es ist wunderbar, so zu leben, im inneren Frieden mit sich. Und es ist gut, wenn Menschen in sich eine solche Balance finden.
    Andere spüren in sich den Drang nach Veränderung. Einen bohrenden Stachel, ebendiese Sehnsucht nach Leben. Sie haben das Gefühl, dass sie in eine Sackgasse geraten sind und ihr Leben zur Routine wird. Die Arbeit wird zum bloßen Broterwerb, sie treten mechanisch Tag für Tag an, um Geld zu verdienen. Oder die dienstlichen Verpflichtungen fressen sie derart auf, dass sie davon schier besessen sind und keinen gesunden Rhythmus zwischen Schaffen und Ruhen mehr finden. Andere haben das Gefühl, tagein, tagaus nur für die Familie da zu sein, alles zu regeln, zu besorgen, am Laufen zu halten, aber sie selbst kommen gar nicht mehr vor. Da entsteht ein Gefühl, sich wie ein Hamster im Rad zu bewegen, aus dem es nicht gelingt auszusteigen. „Wo bleibe ich selbst in alledem?“ ist die Frage, die Menschen dann oft nicht mehr loslässt.
    Ist die Suche nach erfülltem Leben vielleicht ein Wohlstandsproblem? In ihrem mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Roman „Atemschaukel“ [2] lässt Herta Müller ihren Protagonisten, der als 17-Jähriger von den Sowjets nach Sibirien verschleppt wurde, über Hunger nachdenken: „Was kann man sagen über den chronischen Hunger? Kann man sagen, es gibt einen Hunger, der dich krankhungrig macht? Der immer noch hungriger dazukommt, zu dem Hunger, den man schon hat. Der immer neue Hunger, der unersättlich wächst und in den ewig alten, mühsam gezähmten Hunger hineinspringt. Wie läuft man auf der Welt herum, wenn man nichts mehr über sich zu sagen weiß, als dass man Hunger hat? Wenn man an nichts anderes denken kann. Der Gaumen ist größer als der Kopf, eine Kuppel, hoch und hellhörig bis hinauf in den Schädel. Wenn man den Hunger nicht mehr aushält, zieht es im Gaumen, als wäre eine frische Hasenhaut zum Trocknen hinters Gesicht gespannt. Die Wangen verdorren und bedecken sich mit blassem Flaum.“ [3]
    Diese Beschreibung ist ungeheuer eindrücklich, finde ich. Wer so leidet, hat keinen Raum, keine Luft mehr für große Sehnsüchte. Er versucht nur noch, sich am Leben zu halten. Wer Kinder hat, einen anderen liebt, schafft es vielleicht noch, die

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