Sehnsucht nach Owitambe
weggegangen.«
Jamina versuchte sich offensichtlich um eine klare Antwort herumzudrücken. »Sie wird bald wieder hier sein«, versicherte sie verlegen.
Jella roch sofort Lunte. »Sie wird doch nicht etwa zum Wagenfest gegangen sein?«, fragte sie ärgerlich. Sie hatte ihrer Tochter unmissverständlich klargemacht, dass sie es nicht wünschte, dass sie allein an solchen Massenveranstaltungen teilnahm. Jaminas Schweigen war Jella Antwort genug. Verärgert richtete sie sich auf.
»Sag Riccarda, wenn sie zurückkommt, dass sie sich sofort, hörst du, sofort, bei mir melden soll!«
Jamina zuckte zusammen. Jella bereute bereits, dass sie so laut geworden war. Sie hatte vergessen, wie feinfühlig die Dienerin war.
»Verzeih, ich wollte dich nicht erschrecken, aber ich habe es ihr ausdrücklich verboten.«
»Radhu ist bei Ricky. Sie wird auf sie aufpassen. Bestimmt wollen sie nur die Tempeltänzerinnen sehen.«
Jaminas Beschwichtigungsversuch erreichte das genaue Gegenteil.
»Tempeltänzerinnen, wenn ich das schon höre!«, prustete Jella empört. »Seit Wochen liegt sie uns damit in den Ohren. Stell
dir nur vor, Ricky will Tänzerin werden! Neulich hat sie doch allen Ernstes den Wunsch geäußert, eine Tanzausbildung in einem Gurukulam zu beginnen.«
Jella schauderte allein bei dem Gedanken. Sie hatte keine Ahnung, woher ihre Tochter ihre seltsamen Vorlieben für Musik und Tanz hatte. Von ihr und auch von ihrem Vater wohl ganz bestimmt nicht! Das Kind war so anders als sie beide! Jella fiel es schwer, das zu akzeptieren. Wenn es nach ihr ginge, würde Ricky nach dem College auf eine englische Universität gehen und etwas Ordentliches studieren, damit sie einmal selbstständig über ihr Leben bestimmen konnte. Sie sollte es einfacher haben als sie selbst in ihrer Jugend und unabhängig sein. Stattdessen musizierte sie lieber und studierte Tänze ein.
»Miss Ricky ist sehr glücklich beim Tanzen«, verteidigte Jamina ihren Liebling. Sie kümmerte sich um das Mädchen, seit die Familie vor beinahe fünfzehn Jahren nach Indien gekommen war, und liebte sie wie eine eigene Tochter. Doch Jella wollte davon nichts hören. Sie bedeutete der Dienerin gereizt, dass sie gehen konnte, und versuchte erneut, sich zu entspannen. Doch die Ruhe war dahin. Warum stellte sich Ricky dauernd gegen sie? Sie wollte für ihre Tochter doch nur das Beste.
Manchmal war ihr das junge Mädchen richtig fremd. Nicht nur äußerlich unterschieden sich die beiden Frauen. Jella war groß, immer noch schlank und in ihren Bewegungen eher zielstrebig, während Riccardas zartgliedriger Körper neben ihr wie eine Gazelle neben einem Trampeltier wirkte. Ricky war sehr musikalisch, außerdem bewegungsbegabt und verträumt. Oft schwebte sie gedankenverloren durch die Räume, irgendeine Melodie summend, die ihr gerade durch den Kopf ging, und bekam nicht einmal mit, wenn man sie ansprach. Sie war eine gute Schülerin, aber anstatt sich wie ihre Mitschülerinnen auf eine anständige Zukunft zu konzentrieren, wollte sie partout
etwas Musisches erlernen. Sie hatte eine wohlklingende Stimme und spielte hervorragend Klavier. Das war ja schön und gut, aber warum musste ihr Fritz auch noch Tanzunterricht erlauben? Das Tanzen war Rickys wahre Leidenschaft. Sie lernte schnell und beherrschte schnell alle gängigen Tanzarten, aber das reichte ihr nicht. Jetzt wollte sie auch noch die indischen Tänze erlernen. Jella sah das alles mit großem Befremden. Sollte Ricky doch Spaß an ihrem musischen Hobby haben … Aber das war noch lange kein Grund, daraus gleich einen Beruf zu machen. Sie stieß einen langen Seufzer aus.
»Du hörst dich müde an.« Fritz war unbemerkt auf die Dachterrasse getreten und setzte sich in den zweiten Korbsessel neben seine Frau. Auch er wirkte ziemlich angespannt und müde. Mit seinen fünfzig Jahren sah er immer noch sehr gut aus und wirkte attraktiv und jugendlich. Feine Lachfältchen hatten sich neben seinen dunklen Augen eingegraben. Sein Haar war mittlerweile ergraut, aber immer noch dicht und voll. Er übergab Jella einen dicken Brief. Als sie sah, dass er von »Owitambe« stammte, erhellte sich schlagartig ihr Gemüt.
»Von Vater?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort längst kannte.
»Nun mach schon auf«, drängte Fritz. »Ich will unbedingt wissen, wie es allen geht!«
Jella riss das Kuvert auf und entnahm einen mehrseitigen Brief. Dabei fiel eine Fotografie auf den Boden. Fritz hob sie auf und reichte sie ihr.
»Oh, sieh
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