Sehnsucht nach Owitambe

Mischling an der Schule und wurde deshalb von den meisten Schülern und auch vielen Lehrern verachtet. »Bastard« und »verkafferte Brut« waren Ausdrücke, die er täglich aushalten musste. Dabei war der Junge intelligent, hatte eine schnelle Auffassungsgabe und den unbedingten Willen, die Schule gut abzuschließen. In den naturwissenschaftlichen Fächern machte ihm so schnell keiner etwas vor, ebenso wenig wie in Latein und Altgriechisch. Sein analytischer Geist und ein fast schon fanatisches Gerechtigkeitsstreben machten ihn zu einem herausragenden und mustergültigen Schüler, wenn ihm nicht sein Jähzorn einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Immer wieder geriet er deswegen mit der Schulordnung in Konflikt. Es hätte Dr. Hartriegel leidgetan, wenn er ihn von der Reifeprüfung hätte ausschließen müssen. Er zog Raffaels Prüfungsbogen hervor und verglich ihn sorgfältig mit dem Spickzettel.
    »Hhm«, brummte er schließlich und sah ihn an. »Fast keine der auf dem Spickzettel vorkommenden Formeln stimmt mit Ihren Lösungsansätzen überein«, gab er zu. »Wie es aussieht, hat sich jemand einen üblen Scherz mit Ihnen erlaubt.« Seine Stirn kräuselte sich. »Haben Sie eine Idee, wer das gewesen sein könnte?«
    Raffael biss sich auf die Lippen. Natürlich wusste er, wer dahintersteckte, und es wäre ihm eine Genugtuung gewesen, Jon Baltkorn dafür büßen zu sehen, aber es widersprach seiner Ehre, einen Mitschüler zu verraten. Er schüttelte den Kopf.

    Hartriegel sah ihn durchdringend an. »Schade«, meinte er schließlich bedauernd. »Dann wird der Kerl also ungeschoren davonkommen.«
    Raffael schwieg.
    »Sie können Ihre Prüfung morgen wiederholen«, meinte Hartriegel sichtlich erleichtert. Er räumte die Prüfungsbögen in seine Ledertasche und erhob sich. Bevor er den Klassenraum verließ, drehte er sich noch einmal um. »Passen Sie auf, dass Sie sich nicht zu sehr provozieren lassen«, warnte er ihn. »Es gibt genügend Leute in meinem Kollegium, die Sie bei dem geringsten Anlass nur allzu gern der Schule verweisen würden.«
     
    »Neger-Streber«, zischte Jon Baltkorn und warf Raffael einen triumphierenden Blick zu. »Du meinst wohl, du bist was Besseres, du einfältiger Betrüger?«
    Offener, schadenfroher Hass loderte ihm entgegen. Raffael versuchte ruhig zu bleiben. Wie gern hätte er dieser Ratte einen Denkzettel verpasst. Doch Hartriegels Warnung hallte noch in ihm nach. Er rang sich ein überhebliches Lächeln ab, was Baltkorn kurz verunsicherte.
    »Dir wird dein blödes Negergegrinse schon noch vergehen«, höhnte er. »Mit dem Betrug lassen die dich nie zur Reifeprüfung zu.«
    »Da muss ich dich leider enttäuschen«, gab Raffael scharf zurück. »Dein mieser kleiner Trick hat nämlich nicht funktioniert. Und weißt du auch, warum nicht?«
    Baltkorn bemühte sich, gleichgültig zu wirken. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Sonthofen!«, behauptete er.
    »Nein?« Raffael warf einen heißen Blick in die umstehende Runde seiner Mitschüler. »Baltkorn war leider nicht in der Lage, die Formeln, die er mir untergeschoben hat, richtig abzuschreiben! Dr. Hartriegel ist das sofort aufgefallen!« Mit erhobenem Kopf verließ er die Runde. Er hatte Baltkorn vor allen
entlarvt und lächerlich gemacht. Sofort entbrannte eine heftige Diskussion. Einige schmähten Baltkorn, andere zogen sich zurück. Selbst seine besten Freunde zeigten ihr Missfallen. Raffael genoss seinen Triumph, auch wenn er wusste, dass sein Kontrahent nun nichts unversucht lassen würde, um ihm das heimzuzahlen. Er würde sich vorsehen müssen.

    Der prächtige, wuchtige Bass der Dhol-Trommel ließ Rickys Zwerchfell vibrieren, während der durchdringende, weit tragende Ton der Nagesh-waram, einer langen hölzernen Tröte, die Härchen auf ihren Armen aufstellte. Die aufgeregt tuschelnde Menge verstummte, während beide Instrumente noch einmal die Ankunft des Maharana ankündigten. Ricky warf einen aufgeregten Blick auf ihre Eltern. Ihre Mutter und ihr Vater saßen neben ihr auf der Tribüne der englischen Gäste, mit offensichtlich unterschiedlicher Begeisterung. Während Fritz sich angeregt mit Lady Gainsworthy unterhielt, saß Jella griesgrämig daneben und beobachtete das herzliche Lachen ihres Mannes mit offensichtlichem Befremden. Ricky scherte sich nicht darum. Soeben defilierte die fürstliche Garde an ihnen vorüber. Hundert ausgezeichnete Rajputhen-Krieger marschierten in rot betressten grünen Uniformen und