Sehnsucht nach Owitambe
hatten ihn ganz selbstverständlich als Familienmitglied angenommen. Niemals gaben sie ihm das Gefühl, nicht zu ihnen zu gehören. Da der Cousin seiner Mutter nun das Familienoberhaupt war, wurde er automatisch als dessen Erbe angesehen. Bereitwillig hatte Raffael seinen alten Namen abgelegt und den neuen Namen Rutako angenommen. Mit dem Namenswechsel hatte er gehofft, seine Vergangenheit wie eine Schlangenhaut abstreifen und ein anderer, ein besserer Mensch werden zu können. Doch die Bürde, das Leben eines Menschen auf dem Gewissen zu haben, lag immer noch wie ein schwerer Stein auf seinem Gewissen. Selbst in der kargen
Schönheit der wilden Berge ließ ihn der Gedanke nicht los, dass er den Vater des Menschen getötet hatte, den er am meisten liebte. Sein Tod würde immer zwischen ihm und Sonja stehen, selbst wenn die Umstände es zugelassen hätten, dass er wieder zu ihr zurückkehrte. Die ersten Tage auf seiner Flucht hatte er öfters mit dem Gedanken gespielt, sich den Polizeibehörden zu stellen, doch dann hatte er die Idee schnell wieder verworfen. Als Farbiger, der sich gegen einen Weißen gestellt hatte, durfte er auf kein Verständnis hoffen. Wer würde ihm schon glauben, dass er in Notwehr gehandelt hatte? Man würde ihn verurteilen, ohne dass er ein faires Gerichtsverfahren bekommen hätte. Die rassistischen Gesetze des südafrikanischen Protektorats waren beinahe noch unbarmherziger als die unter den deutschen Schutztruppen. Verzweifelt war er tagelang durch die Savanne geirrt, ohne einen Plan, was er nun mit seinem verkorksten Leben anstellen sollte. Weiße Siedlungen hatte er aus Angst vor Entdeckung gemieden. Als Hunger und Durst beinahe unerträglich geworden waren, hatte er sich in die Dörfer der Schwarzen geschlichen, um dort um etwas Maisbrei und Wasser zu bitten. Ihm war schnell klar geworden, dass sein Leben in der weißen Gesellschaft nun für immer vorüber war. Ohne Geld und Beziehungen war das Leben eines Mischlings nichts wert. Also schlug er sich nordwestlich durch das Owahereroland, bis er schließlich das Kaokoveld, die Heimat seiner Mutter erreicht hatte. In den einsamen Nächten unter dem klaren, eiskalten Sternenhimmel klammerte er sich an die Hoffnung, dass er bei dem Volk seiner Mutter Erlösung finden konnte. War er dort nicht einmal glücklich gewesen?
Es war ihm wirklich nicht schlecht ergangen, bis sein Onkel auf die Idee gekommen war, ihm eine Frau zu suchen.
Warum freute er sich nicht? Sein Leben war nun das eines Himba. Eine Heirat würde ihn endgültig an das Volk seiner Mutter binden. In den letzten Monaten hatte er schließlich gezeigt,
dass er ein tüchtiger Hirte war. Mit Umsicht und Voraussicht hatte er seine Herde und damit sein Ansehen vermehrt. Raffael seufzte. Wahrscheinlich machte er sich einfach zu viele Gedanken.
Wapenga erhob sich, als er Rutako auf sich zukommen sah. Die Mitglieder seiner Familie hatten ihm längst von seiner glücklichen Rückkehr berichtet. Er ließ eine Kalebasse mit saurer Milch herbeischaffen und reichte sie mit einem anerkennenden Lächeln seinem Neffen. Rutako nickte dankbar und trank einen großen Schluck. Die fette Milch stärkte ihn und gab ihm das Gefühl, willkommen zu sein.
»Moro, moro«, begrüßte er nun auch Kathetaura und Maipangwe. »Mein Herz freut sich, euch in der Onganda meines Onkels wiederzusehen.«
»Die Freude ist ganz auf unserer Seite«, meinte Kathetaura. Er war ein groß gewachsener Mann in mittleren Jahren. Seine aufrechte Haltung und die sorgfältig gepflegte Ondumbu-Frisur, zwei lange, geflochtene Zöpfe, die unter einer Haube versteckt waren, deuteten seine Wichtigkeit an.
Er war das angesehene Familienoberhaupt des Schlamm-Clans und galt als sehr einflussreich. Seine dunkle Haut glänzte ebenso wie die seiner Tochter Maipangwe. Beide hatten ihre Körper mit dem buttrig roten Ockerfett eingerieben, das mit Harzen aromatisiert worden war. Maipangwe lächelte ihm scheu zu. Sie trug eine prächtige Ombongoro zwischen ihren birnenförmigen roten Brüsten. Die Tritonmuschel an der sorgfältig gearbeiteten Schmuckkette war besonders groß und strahlend. Raffael musste zugeben, dass sie bezaubernd aussah. Er erkannte vieles von seiner Mutter in ihr und fühlte sich gleich etwas besser.
Wapenga deutete auf ein leer stehendes Ondjuwo.
»Du kannst dort wohnen, solange du bei uns bist«, bot er seinem Neffen an. »Wir werden gleich eine Zeremonie abhalten.
Tjireva hat frisches Kari gebraut. Wer weiß,
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