Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
Schultern. »Alle kleinen Mädchen gehen den großen Jungs auf die Nerven. Wengistens tun sie so. Aber ich mag dich halt und will nicht, dass dir etwas geschieht.«
Malu lächelte das erste Mal seit vielen Stunden. »Hat Ruppert auch nach mir gesucht?«, wollte sie wissen. »Ihm gehe ich nämlich auch auf die Nerven.«
Johann wich ihrem Blick aus. »Er wird auf dem Gut zu tun haben«, erwiderte er leise.
Aber Malu schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht wie bei dir. Ihm gehe ich wirklich auf die Nerven. Er hat schon oft gesagt, dass mich niemand auf Zehlendorf braucht und dass ich allen nur Unglück bringe. Wie der Tante Camilla, die ich auf dem Gewissen habe. Ihm wäre es bestimmt lieber, wenn mich die wilden Tiere fressen würden. Und meiner Mutter auch.«
Johann erwiderte nichts. Er wischte Malu nur zart die Tränen von den Wangen und zog sie hoch. »Komm, wir müssen uns beeilen. Bald wird es dunkel. Du hast bestimmt Hunger.«
Hand in Hand liefen sie durch den Wald, der Malu jetzt gar nicht mehr bedrohlich erschien.
Johann brachte sie bis zum Gut. Dort nahm er noch einmal ihre beiden Hände und sagte ernst: »Wenn du mal einen richtigen Bruder brauchst, Kleine, dann ruf nach mir.«
Malu nickte und lächelte schüchtern. Immer wenn sie später an dieses Erlebnis zurückdachte, behauptete sie stets, das sei der Tag gewesen, an dem sie sich in Johann verliebt hatte.
Von da an war Johann ihr bester Freund, so wie Constanze ihre beste Freundin war. Johann war derjenige, der sie beschützte, ihr die Tränen abwischte, wenn sie gestürzt war und weinte, während die eigene Mutter nur angewidert das Gesicht verzog. Und Johann war es auch, der ihr das Pfeifen auf zwei Fingern beibrachte und das Kirschkernspucken, der sie spielerisch an den Zöpfen zog und beim Baden im See untertauchte, ganz so, als ob sie ein richtiger Junge wäre.
Manchmal beneidete Malu ihre Freundin um Johann. Einen Bruder wie ihn hätte sie zu gern gehabt. Aber sie hatte eben nur Ruppert: einen gemeinen Jungen, der grob an ihren Zöpfen riss, der ihr Stöcke zwischen die Beine schob und sie beim Essen in die Rippen stieß, sodass sie die Suppe verkleckerte. Aber jetzt, da Johann auch eine Art Bruder für sie war, fühlte sie sich beschützt und gemocht. Beschützt sogar vor ihrem leiblichen Bruder. Mochte Ruppert, so viel er wollte, mit der Mutter tuscheln, mochte sie ihm nur immer wieder über das Haar streichen. Malu hatte jetzt neben dem Vater, Nina und Ilme auch noch Constanze und Johann. War das nicht viel mehr?
Gut Zehlendorf war nicht besonders groß für lettische Verhältnisse, gerade mal vierhundert Hektar. Doch der Boden war fruchtbar, die Wälder voller Wild, der Fischteich übervoll. Ilme, die Hofmutter, teilte jeden Morgen den Mägden die Arbeit zu. Ihr Ehemann war der Kutscher Will, der wie sie aus der Nähe von Mitau stammte. Herr Schwarzrock, der Verwalter, überwachte die Knechte, die Arbeit auf den Feldern und in den Ställen. Markus Schneider, der Förster, der sich um das Wild und die Fische kümmerte, kam aus Deutschland.
Am Rande des Gutes befanden sich die Gesindehäuser. Es waren so viele, dass sie einem Dorf glichen. Dort gab es eine eigene Schänke, eine Schusterei, eine Schneiderei und sogar einen Gemischtwarenladen.
Wolfgang von Zehlendorfs Vater hatte die Gesindehäuser bauen lassen, und Malu kannte sich in ihnen bald besser aus als im Gutshaus. Ständig hing der Geruch der Paraffinlampen in ihren Haaren, und oft spielte sie mit den Kindern des Gesindes an der einzigen Pumpe mitten im Gutsdorf, wobei Johann stets ihr Anführer war. Malu ging jedoch nicht nur ins Dorf, um zu spielen, sondern schaute sich auch mit kindlicher Neugier an, wie das Leben dort ablief. Sie beobachtete, wie die Frauen sich am Brunnen trafen, dort Neuigkeiten austauschten und hernach die vollen Eimer zu den Wasserfässern hinter ihren Häusern schleppten. In den Häusern fielen der Kleinen vor allem die Schlafstellen auf. So standen in manchen die russischen Kachelöfen mit den breiten Ofenbänken, auf denen im Winter, mit Fellen bedeckt, die Familien schliefen. In anderen Häusern gab es Betten, in denen mehrere Familienmitglieder auf einmal nebeneinander schliefen.
Gut Zehlendorf – das waren für Malu jedoch nicht nur das Gesindedorf und Johann, sondern auch die Ställe, der Wald, der See, der Wäscheplatz, die Gemüsefelder, die Obst- und Beerensträucher, die Scheunen, Speicher, Rauch- und Vorratskammern. Am liebsten waren
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