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Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Titel: Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Winter
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hätte besser auf die Freundin aufpassen müssen. War sie nicht wenigstens mitschuldig an Constanzes Kokainsucht, der Schwangerschaft und daran, dass Constanze das Kind nicht selbst aufziehen konnte? Immerhin hatte Malu die Freundin mit nach Berlin genommen.
    Sie seufzte, drückte die Kleine enger an sich und befahl schließlich einem Droschkenkutscher, sich um ihr Gepäck zu kümmern. Sie selbst wollte zu ihrer Wohnung laufen.
    Ihr neues Zuhause war nicht weit vom Bahnhof entfernt, in der Màrstalu iela . Nur ein paar Schritte am Fluss entlang, und dann würde sie schon in der Marstallstraße sein. Das Haus, in dem Malu zwei Etagen gemietet hatte, lag am Rande der Altstadt. Unten waren Geschäftsräume, die Malu als Atelier und Laden zugleich benutzen wollte. Im ersten Stock befanden sich drei Schlafzimmer, ein kleiner Salon, eine Küche, ein Bad und eine winzige Kammer für das Kindermädchen.
    Doch als sie in die Straße bog, blieb Malu wie erstarrt stehen. Erschüttert blickte sie auf die beiden großen Schaufenster ihres zukünftigen Ladens. Mit roter Farbe hatte jemand das Glas beschmiert und in riesigen Lettern darauf geschrieben: »Deutsche raus!«
    Fassungslos presste Malu die kleine Viola an sich, als müsste sie sie schützen. Ihr schöner Laden. Noch nicht eingerichtet, noch nicht geöffnet, aber schon beschmutzt. Sie konnte den Blick nicht von der Schmiererei wenden, konnte aber auch keinen Fuß vor den anderen setzen.
    »Das tut mir sehr leid, Schwester Marie-Luise«, sagte eine Stimme hinter ihr, die ihr bekannt vorkam.
    Malu fuhr herum. Hinter ihr stand Dr. David Salomonow, der Arzt aus dem Lazarett, der sie zu ihrem sterbenden Vater geholt hatte.
    »Ich bin keine Krankenschwester mehr«, flüsterte Malu gedankenverloren und senkte den Kopf.
    »Ich weiß, aber ich wusste nicht, wie ich Sie sonst ansprechen sollte.«
    Malu wandte sich ihm zu, die Augen weit aufgerissen. »Ist das jetzt üblich?«
    »Sie meinen die Schmierereien?« Salomonow nickte. »Seit dem Krieg und seit den Enteignungen der Großgrundbesitzer haben die Letten einen eigenen Stolz entwickelt. Manchmal schießen sie über das Ziel hinaus. Sie sind gegen die Russen, gegen die Juden, gegen die Deutschen. Am meisten aber gegen die Deutschen.«
    Malu schüttelte den Kopf. »Das hätte ich mir niemals träumen lassen«, sagte sie traurig.
    »Was?«
    »In der Heimat nicht willkommen zu sein.«
    Salomonow nickte. »Ich weiß, was Sie meinen. Aber die Menschen hier werden sich an Sie gewöhnen. Sie werden sehr rasch erkennen, dass Sie eine von ihnen sind.«
    Malu streichelte Violas Köpfchen. Mit einem Mal erwachte die Kleine und fing an zu weinen.
    »Wollen Sie nicht weitergehen?«, fragte der Arzt zögernd. »Die Kleine, sie hat bestimmt Hunger.« Er legte ihr leicht eine Hand auf den Rücken, drängte sie sanft vorwärts.
    Malu ließ sich schieben, konnte aber noch immer kaum einen Fuß vor den anderen setzen.
    »Kümmern Sie sich nur um die Kleine«, fuhr Salomonow fort. »Ich werde inzwischen die Farbe von den Fenstern waschen.«
    Jetzt erst erwachte Malu aus ihrer Starre und schüttelte den Kopf. »Das brauchen Sie nicht. Das werde ich selbst tun.«
    Der Arzt lachte. »Was wollen Sie noch alles erledigen? Auspacken mit der linken Hand und mit der rechten die Windel wechseln?«
    Mit einem Mal wurde Malu klar, dass Salomonow recht hatte. Sie konnte es nicht alleine schaffen. Nicht alles auf einmal. Und plötzlich vermisste sie Janis so schmerzlich, dass sie beinahe in Tränen ausgebrochen wäre.
    »Lassen Sie mich Ihnen helfen. Ich habe Zeit. Meine Praxis ist heute Vormittag geschlossen.«
    »Eine Praxis?«
    Der Arzt zuckte mit den Schultern. »Ich muss doch auch leben. Also habe ich nach dem Krieg eine eigene Praxis eröffnet. Ich bin Internist. Das wissen Sie doch noch, oder?«
    Malu nickte, obwohl sie sich nicht daran erinnern konnte.
    Mit zitternden Fingern schloss sie die Haustür auf. Sie wollte gerade mit Viola in den ersten Stock hochgehen, als sie sah, dass die Droschke vor der Haustür hielt.
    »Gehen Sie nur, Marie-Luise, ich kümmere mich um Ihre Sachen.« Salomonow gab ihr mit einem Wink zu verstehen, dass sie unbesorgt nach oben gehen sollte.
    Malu zögerte kurz, war dann aber froh, dass sie sich nicht mehr um ihr Gepäck kümmern musste. Sie trug Viola die Treppe hinauf, windelte und fütterte sie. Nachdem sie die Kleine zum Schlafen gelegt hatte, wollte sie eigentlich nur kurz bei ihr wachen, bis Viola die Augen schließen

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