Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
Gleisen entlang. Ein Kiosk verkaufte Zeitungen, Zigaretten und Getränke. Vor dem Bahnhof hatten sich ein Dutzend alte Frauen versammelt, die frische Eier, Pilze in Körben oder getrocknete Kräuter und Honig verkauften. Sie kamen aus den umliegenden Dörfern, standen seit den frühen Morgenstunden vor dem Bahnhof und würden dort noch stehen, wenn der Abend hereinbrach.
Malu nahm sich eine Droschke. Sie setzte sich neben den Kutscher und befahl ihm, sie die zwanzig Werst nach Gut Zehlendorf zu bringen.
Der Kutscher, ein Mann in mittleren Jahren, zuckte mit den Schultern. »Was wollen Sie dort?«, fragte er verwundert. »Es ist einsam da draußen. Fuchs und Hase sagen sich dort Gute Nacht.«
»Auf das Gut will ich«, erklärte Malu.
»Das Gut. Aha.« Der Kutscher verzog das Gesicht und kratzte sich am Kopf.
»Was ist mit dem Gut?«, wollte Malu wissen.
»Was soll damit sein? Früher, als der Freiherr dort noch das Sagen hatte, war das Gut klug geführt, reich und gepflegt. Nun, da der junge Herr sich nicht darum kümmert, sieht alles anders aus.« Er sah sie an, betrachtete ihre städtische Kleidung und ihren Schmuck. »Ich will nichts gesagt haben, gnädige Frau. Früher war eben alles anders. Und jetzt muss jeder zusehen, wie er zurechtkommt. Die Zeiten sind nicht einfacher geworden. Aber wenn Sie meinen …«
Er nickte noch einmal, dann ließ er die Peitsche knallen, und die Pferde setzten sich in Trab. Eine Weile fuhren sie schweigend.
Dann aber fragte Malu: »Und Männertreu, wie steht es damit?«
Der Kutscher sah sie von der Seite an. Er war es offensichtlich nicht gewohnt, dass Damen wie Malu neben ihm auf dem Kutschbock saßen, statt es sich hinten bequem zu machen.
»Männertreu ist gut in Schuss. Man könnte sagen, das Gut läuft wie am Schnürchen. Er ist ein ganzer Kerl, der Janis Balodis.«
»Balodis? Haben Sie Balodis gesagt?«
Der Kutscher nickte. »Er ist ein Lette. Ein waschechter. Kerle wie ihn können Sie lange suchen. Gut möglich, dass er bald Bürgermeister von Mitau sein wird. Und den Namen seiner Mutter hat er auch angenommen. Ein lettischer Name. Wie es sich gehört für einen lettischen Bürgermeister. Früher, da hieß er Mohrmann. Da war er deutsch. Aber jetzt hat er sich seiner Wurzeln besonnen.« Der Droschkenfahrer schnalzte anerkennend mit der Zunge.
»Balodis«, raunte Malu vor sich hin. »Janis Balodis.«
Der Kutscher nickte. »Er ist der Spitzenkandidat der Lettischen Partei. Ich bin sicher, er wird zum Bürgermeister gewählt. Ein Segen wäre das für uns alle.« Er warf Malu einen argwöhnischen Blick zu. »Ablenkungen kann er jetzt jedenfalls nicht gebrauchen.«
Sie seufzte.
Als nach einer Weile das Dach des Herrenhauses von Gut Zehlendorf vor ihr auftauchte, bekam Malu Herzklopfen. »Halten Sie hier«, bat sie den Kutscher und nahm ihre kleine Reisetasche in die Hand. »Ich möchte die letzten Meter zu Fuß gehen.«
»Wie Sie wünschen.« Der Kutscher betrachtete sie misstrauisch. »Sagen Sie, müsste ich Sie kennen?«, fragte er unsicher. »Gehören Sie nach Zehlendorf?«
Malu schüttelte den Kopf. »Machen Sie sich keine Gedanken. Ich bin nur zu Besuch hier.«
Sie zahlte, stieg vom Kutschbock und hob zum Abschied die Hand. Langsam ging sie mit der Tasche die Auffahrt zum Herrenhaus hinauf. An den Wegrändern stand das Unkraut kniehoch. Der Rasen war nicht geschnitten. Einzelne Äste und Zweige, Überbleibsel eines Sturms, lagen auf dem Kies. Der Ast einer Kiefer war gebrochen und hing direkt über dem Weg. Zwischen den Laubbäumen vermoderte das Laub des letzten Jahres.
Malu sah das alles, registrierte jeden Stein, jedes Blatt. Als sie das Rondell vor dem Haus erreichte, blieb ihr fast das Herz stehen. Die Stiefmütterchen, mit denen das Rondell bepflanzt gewesen war, seit sie denken konnte, gab es nicht mehr, stattdessen nur aufgewühlte Erde. Die Steine, die das Rondell eingefasst hatten, lagen umgestoßen auf dem Boden verstreut. Ein einzelner Papierbogen hatte sich in altem Laub verfangen und flatterte im Wind.
Das Haus selbst war in keinem besseren Zustand. Der kleinen geschnitzten Holzbank, die der Kutscher Will in jedem Frühjahr neu gestrichen hatte, fehlte eine Rückenstrebe, und die Farbe blätterte ab. Malu sah an der Fassade hoch, erblickte vor Dreck stumpfe Fensterscheiben und dahinter ergraute Gardinen. Der Messingklopfer an der Tür strahlte nicht, der Abtreter fehlte gänzlich.
Malu atmete einmal tief ein und aus. Es ist wohl so, dachte
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