Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
anwesend, dass Malu sich gar nicht mehr vorstellen konnte, wie es ohne ihn gewesen war. Er machte keinen Hehl daraus, dass er sich mehr als eine Freundschaft mit Malu wünschte. Doch immer wenn er am Abend ging und sich von ihr verabschiedete, drehte Malu das Gesicht zur Seite, sodass sein Kuss nur ihre Wange streifte.
Eines Tages aber nahm er ihr Gesicht in beide Hände, küsste sie sanft und mit geschlossenen Augen auf den Mund.
»Du zitterst ja«, stellte er danach fest. »Bin ich dir so zuwider?«
Malu schüttelte den Kopf, lehnte sich an seine Brust und begann zu weinen. Sie hätte nicht sagen können, woher die Tränen rührten, aber sie ließen sich nicht aufhalten. »Ich kann nicht«, bekannte sie schluchzend. »Ich bin wohl nicht in der Lage, einen Mann zu lieben.« Einen Mann, der nicht Janis ist, dachte sie bei sich.
David zog sie an sich und strich ihr über den Rücken. »Du musst mich nicht lieben«, flüsterte er. »Das verlange ich gar nicht von dir. Wenn du mich dich nur lieben lassen würdest, so wäre ich schon glücklich.« Dann löste er sich aus ihrer Umarmung und strich ihr sanft das Haar aus der Stirn. »Es ist nicht der richtige Zeitpunkt«, fuhr er fort. »Und auch der Ort ist nicht der, den ich mir immer vorgestellt habe. Und doch kann ich nicht länger warten: Marie-Luise von Zehlendorf, möchtest du mich heiraten? Wirst du mir gestatten, dir ein guter Ehemann und Viola ein guter Vater zu sein?«
Malu starrte David an, als hätte er ihr ein unzüchtiges Angebot gemacht. Doch mit einem Mal wurde ihr klar, dass seine Worte richtig waren. Sie hatten in den letzten Wochen jeden Abend, jedes Wochenende gemeinsam verbracht. Sie hatte sich von ihm stärken lassen, hatte seine Hilfe, sein Vertrauen, sein Verständnis und seinen Zuspruch wie selbstverständlich in Anspruch genommen. Aber alles hatte seinen Preis.
David hatte sich getäuscht, hatte auch sie getäuscht, als er an ihrem Ankunftstag sagte, dass ein jeder dem anderen helfen sollte. In Wahrheit wurde immer irgendwann die Rechnung für eine Hilfeleistung präsentiert. Und heute hatte David ihr die seine aufgemacht. Heirate mich, hatte er verlangt. Du musst mich nicht lieben, jedenfalls jetzt noch nicht, aber heirate mich. Ich habe dir viel Gutes getan, jetzt ist es Zeit, dass du dich revanchierst. Sie glaubte nicht wirklich, dass David so etwas auch nur im Entferntesten dachte. Doch das nützte nichts, denn sie empfand es so.
Warum sollte sie ihn denn nicht heiraten? Er gab ihr alles, was sie brauchte. Als seine Frau würde sie vor den Anfeindungen gegen Deutsche geschützt sein. Viola hätte einen Vater, sie einen Freund. Warum also nicht einfach Ja sagen?
Weil er nicht der Mann meines Lebens ist, gab Malu vor sich selbst zu.
Dann beschloss sie, Janis noch ein letztes Mal zu treffen. Einmal nur wollte sie das Glück spüren. Lieben und geliebt werden. Ein einziges Mal nur. Dann konnte kommen, was kommen mochte. Dann würde sie David vielleicht sogar heiraten.
Dreißigstes Kapitel
Baltikum, 1923
E s war noch sehr früh am Morgen, als Malu zum Bahnhof ging und eine Fahrkarte nach Mitau kaufte. Sie hatte Viola bei der Kinderfrau gelassen, einer Lettin mit großen Brüsten und freundlichem Wesen, die selbst schon fünf eigene Kinder aufgezogen hatte.
Im Zug sah sie aus dem Fenster und betrachtete die Landschaft, als wäre sie ihr neu. Die Birkenwälder, der sandige Boden, die Kiefern. Ein Geruch nach Sommer drang durch das Zugfenster. Ein Geruch, der sie daran erinnerte, wie sie in den Sommern ihrer Kindheit mit Ilme in die Pilze gegangen war. Pilze, Heidelbeeren, Brombeeren. Sie hatte den Geruch des Waldes geliebt, das Moos unter ihren Füßen, die Spinnweben im Haar. Sie hatte es geliebt, ihre Zunge und ihre Lippen mit den Heidelbeeren blau zu färben. Und sie hatte das erste Gericht aus Pfifferlingen geliebt. Kartoffeln und Pfifferlinge mit Ei und Speck. In Berlin hatte sie niemals Heidelbeeren und Pfifferlinge gegessen, obwohl die Altmark so nahe gewesen war.
Malu lächelte, als sie kurz vor Mitau an dem alten Bahnwärterhäuschen vorüberkamen und sie den hageren Mann in seiner Uniform dort stehen sah, der die Reisenden mit Ernst und Würde grüßte. Schon immer hatte dieser Mann dort gestanden, und schon immer hatte er den Reisenden feierlich zugenickt, als würde er sie mit Wohlwollen im Städtchen Mitau begrüßen.
Auch der Bahnhof hatte sich nicht verändert. Das kleine graue Gebäude duckte sich wie eh und je an den
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