Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
sah ihr tief in die Augen. »Es heißt, man habe immer eine Wahl. Aber ich fürchte, dieser Spruch trifft nur auf Menschen zu, die kein Gewissen haben. Du aber hast es. Und deshalb hast du keine Wahl. Ab jetzt bist du Mutter. Seit heute hast du eine Tochter, die dich braucht, weil ihre eigene Mutter nicht für sie sorgen kann.« Sie brach ab und lächelte wehmütig. »Und ich weiß nicht, ob ich dir dazu gratulieren oder mit dir weinen soll.«
Als Malu mit ihrem Hab und Gut in den Schnellzug Berlin-Riga stieg, stand nur Isabel von Ruhlow auf dem Bahnsteig, um sie zu verabschieden.
»Gib sie mir noch einmal«, sagte sie und streckte die Arme nach der Kleinen aus. »Viola von Zehlendorf. Du hast wirklich einen schönen Namen für sie ausgesucht.«
Malu nickte. »Trotzdem kann ich es noch immer nicht fassen, dass weder Ruppert noch Constanze bei der Taufe waren.«
Isabel zuckte die Schultern. »Was hast du erwartet? Dass Ruppert seinen Lebenswandel ändert und ab sofort ein zärtlicher Vater wird?«
Malu schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Aber dass er das Kind achselzuckend abtut und nur sagt: ›Ich jedenfalls lasse mir den Bastard nicht unterjubeln!‹ Nein, das hätte ich nicht gedacht. Unser Vater war ein Mann mit Ehre. Und dasselbe hätte er auch von Ruppert erwartet.«
»Es ist, wie es ist. Und soviel ich weiß, hat Constanze die Kleine nicht ein einziges Mal im Arm gehabt. Seit der Geburt liegt sie im Bett, weigert sich aufzustehen und hat sogar den Arzt wieder weggeschickt. Sie erhebt sich nur, um an Kokain zu kommen. Eigentlich müsste sie dringend in eine Klinik. Aber wir können sie eben nicht dazu zwingen.« Isabel reichte Malu das winzige Bündel. »Vergiss nicht, du kannst immer auf mich zählen. Wir können telefonieren. Und du musst mir versprechen zu schreiben.«
Die beiden Frauen umarmten sich, dann machte der Schaffner ein Zeichen, dass Malu einsteigen sollte. Kurze Zeit später rollte der Zug aus dem Berliner Bahnhof.
Neunundzwanzigstes Kapitel
Riga, 1923
A ls Malu in Riga ankam, hing Nebel über der Stadt. Vom Fluss stiegen Schwaden auf, sodass es aussah, als würde der Fluss kochen.
»Das ist deine Heimat, meine Kleine«, erklärte sie dem schlafenden Säugling. »Hier bist du zu Hause.«
Viola war inzwischen sechs Wochen alt, und Malu fiel es nicht leicht, sich daran zu gewöhnen, dass sie plötzlich ein Kind hatte. In Berlin hatte sie Tag um Tag versucht, Constanze mit Viola zusammenzubringen, doch die Freundin hatte die Kleine nicht ein einziges Mal im Arm gehabt.
»Bring sie weg«, hatte Constanze schmerzvoll gesagt, wann immer Malu mit dem Kind auftauchte. »Ich will sie nicht sehen.«
»Sie ist deine Tochter.«
»Du kannst sie behalten. Ich schenke sie dir.«
»Constanze, einen Säugling kann man nicht verschenken. Du hast Verantwortung für sie. Was würdest du tun, wenn ich nicht wäre?«
Constanze hatte sie aus leeren Augen angeschaut. Also hatte Malu die Kleine gefüttert und gewickelt, war nachts aufgestanden, wenn Viola geweint hatte, war mit ihr im Park spaziert und hatte sie zum Arzt gebracht. Doch erst drei Tage vor ihrer Abfahrt war Malu mit Isabel von Ruhlow auf dem Standesamt gewesen. Isabel kannte dort jemanden, und deshalb musste Malu nur die dringlichsten Fragen beantworten. Wann ist das Kind geboren? Name der Mutter? Name des Vaters?
Somit war es aktenkundig geworden, dass Marie-Luise von Zehlendorf die Mutter der kleinen Viola war, den Vatersnamen nicht kannte und somit zu den gefallenen Mädchen gehörte. Zu denen, die keine Chancen mehr auf eine standesgemäße Heirat hatten, die schlechte Aussichten auf eine Wohnung besaßen und dem Getratsche der Leute hemmungslos ausgesetzt waren.
Doch das war es nicht, was Malu beschwerte. Sie scherte sich nicht um das Gerede anderer Leute. Und eine Wohnung in Riga hatte sie bereits. Es war die Verantwortung, die ihr zu schaffen machte. Viola war so winzig, so schutzlos. Würde sie als Ziehmutter alles richtig machen? Würde sie dem Kind ein Leben ermöglichen können, das seinen Bedürfnissen entsprach? Und würde ihre Arbeit darunter leiden?
Das Schlimmste aber war, dass Janis sie verurteilen würde. Er könnte glauben, sie hätte gehurt. Am meisten Angst hatte Malu davor, die Achtung des Mannes zu verlieren, den sie liebte und mit dem sie trotzdem nicht zusammen sein konnte. Genauso wenig konnte sie ihm sagen, dass Constanze das Kind zur Welt gebracht hatte – und er somit Violas Onkel war. Sie
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