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Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Titel: Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Winter
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solchen Grad der Verwahrlosung hatte sie nicht erwartet. Sie seufzte. Das Gut kann nicht gedeihen, dachte sie, wenn die Hand des Herrn fehlt. Ruppert sollte sich überlegen, was er tun möchte. Entweder er führt in Berlin irgendwelche Geschäfte oder hier das Gut.
    Sie sah über das Land, und unwillkürlich wurde ihr Blick vom Wohnhaus auf Männertreu angezogen. Janis hatte das Haus neu verputzt. Die weißen Wände strahlten in der Sonne. Vor den grün gestrichenen Fensterläden blühten rote Blumen in erdfarbenen Töpfen. Aus dem Schornstein stieg Rauch auf. Das ganze Haus wirkte heimelig und gemütlich. Malu zögerte nur einen Augenblick, dann beschloss sie, Janis zu besuchen. Als alte Freundin und Nachbarin wollte sie kommen.
    Trotzdem schlug ihr das Herz bis zum Hals, als sie an die Haustür klopfte. Eine rundliche Frau mit langen blonden Zöpfen und kindlich blauen Augen öffnete ihr. Die Frau strahlte sie an, als würde sie die Besucherin schon ewig kennen. Dann sagte sie: »Bitte treten Sie ein, Frau von Zehlendorf. Ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen.«
    Malu wunderte sich. »Woher wissen Sie, wer ich bin?«
    Wieder lachte die Frau. »Wir haben eine Fotografie von Ihnen und Constanze in unserem Wohnzimmer stehen. Sie haben sich in den letzten Jahren kaum verändert.«
    »Vielen Dank.« Malu nickte und ließ sich von der Frau in die Wohnstube führen.
    »Ich mache Ihnen einen Tee, ja?«
    Malu nickte erneut, hörte wenig später die Frau in der Küche hantieren und sah sich um. Die Möbel waren alt, sie hatten schon im Pfarrhaus der Mohrmanns gestanden, doch die Sessel hatten neue Bezüge und Schondeckchen über den Lehnen. Auf einer Kommode standen tatsächlich Fotos. Eines zeigte Janis zum Schulabschluss. Malu nahm es in die Hand, konnte sich kaum satt daran sehen. Daneben stand das Hochzeitsfoto von Janis und Marija in einem alten Silberrahmen, den Malu sogleich wiedererkannte; er hatte früher im Salon ihrer Mutter gestanden und war wahrscheinlich das Hochzeitsgeschenk für das junge Paar gewesen. Die Fotografie war vor der kleinen Dorfkirche aufgenommen worden, in der Janis’ Vater früher Pastor gewesen war. Marija trug ein weißes Kleid und einen Blütenkranz auf dem Kopf. Sie wirkte so gesund und drall wie das Landmädchen, das sie war. Auf dem Foto blickte sie stolz und strahlend zu ihrem Ehemann auf. Sogar Janis zeigte ein kleines Lächeln.
    Malu seufzte, aber insgeheim freute sie sich. Marija war es also gelungen, die bösen Erinnerungen aus seinem Gesicht zu wischen. Malu nahm das Foto in die Hand und betrachtete es. Sie konnte spüren, wie sich etwas in ihrem Inneren verschloss. Janis war auch ohne sie glücklich. Teilnahmslos betrachtete sie Braut und Bräutigam. So teilnahmslos, als stünden da Fremde. Aber war es nicht auch so?
    Schon kam die Frau zurück und reichte Malu die Hand. »Entschuldigen Sie, ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen. Marija Balodis. Bitte nennen Sie mich doch Marija.«
    »Gern.« Malu erwiderte den Händedruck der Frau, der fest und warm war. Eine Hand, die halten kann, dachte Malu. Und ein Händedruck wie ein Versprechen.
    »Mein Bruder erzählte mir, dass Janis und Sie ein Kind haben?«
    Marija lächelte. »Ja. Es ist ein kleiner Junge. Anderthalb Jahre ist er jetzt alt. Er ist unsere ganze Freude.«
    Malu nickte. Die Frau sah so freundlich aus, so herzlich und warm, dass Malu ihr am liebsten von Viola erzählt hätte. Alles, die ganze Wahrheit, einschließlich ihrer Ängste und Sorgen. Doch sie hielt an sich, trank den angebotenen Tee. »Ist Janis nicht zu Hause?«, fragte sie nach einer kleinen Weile und erst, nachdem sie sich nach Bekannten und Verwandten erkundigt hatte.
    Marija schüttelte den Kopf. »In Mitau ist er«, antwortete sie, und Stolz klang in ihrer Stimme. »Er hat im Parlament zu tun. Ich weiß nicht, wann er zurückkommt, aber ich bin sicher, dass er traurig sein wird, Sie verpasst zu haben.«
    In diesem Augenblick war aus dem Nebenraum ein Weinen zu hören.
    »Der Kleine«, sagte Marija. »Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick.«
    »Ich würde ihn gern sehen.«
    Marija nickte und kam wenig später mit dem Kind auf dem Arm zurück. Es war rund und pausbäckig, blickte mit großen Augen in die Welt. Noch müde vom Schlaf rieb er sich mit beiden Fäustchen die Augen, lehnte sich dabei an die Brust seiner Mutter und versteckte das blonde Köpfchen in der Halsbeuge. Marija wiegte ihn, strich ihm sanft über den Rücken.
    Sie sind

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