Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
eine Einheit, dachte Malu. Mutter und Kind. Wie auf den alten Gemälden. Sie gehören zusammen. Das gemeinsame Blut verbindet sie so stark, dass nichts sie trennen kann. Und Janis gehörte zu ihnen.
Sie dachte an Viola, von der sie niemals geglaubt hatte, dass sie beide zusammengehörten und nichts sie trennen konnte. Viola war ihr manchmal wie eine Last erschienen, eine Schuld, die es abzutragen galt, manchmal auch wie ein Geschenk. Niemals aber wie etwas, das zu ihr gehörte, auf Gedeih und Verderb. Der Anblick Marijas mit dem Jungen auf dem Arm rührte sie zu Tränen.
»Ich muss gehen.« Sie stand abrupt auf und wollte dem Kind die Wange streicheln, ließ den halb erhobenen Arm aber sinken.
Marija reichte ihr die Hand. »Schön, Sie kennengelernt zu haben. Beehren Sie uns doch einmal wieder.«
»Grüßen Sie Janis, grüßen Sie Ihren Mann bitte von mir.«
Marija lächelte sie freundlich an, doch Malu floh regelrecht vor dem Haus und dem Glück, das darinnen wohnte. Und während sie zum Herrenhaus zurücklief, wurde ihr klar, dass sie Zehlendorf und Janis verloren hatte.
Hier war kein Platz mehr für sie. Niemand hatte sie hier vermisst, niemand sie je gebraucht. Das Leben hier war ohne sie weitergegangen. Ganz so, wie die Mutter es ihr immer vorausgesagt hatte.
Einunddreißigstes Kapitel
Baltikum, 1923
J anis stand bei der Droschkenstation in Mitau. Er lehnte an einem Laternenpfahl, die Beine überkreuzt.
Als der alte Zehlendorfer Kutscher dort anhielt, grüßte Janis ihn herzlich und half Malu aus dem Wagen. All das geschah so selbstverständlich, dass Malu nichts sagte und nichts fragte.
Erst später, als sie in einem kleinen Lokal saßen, wollte sie wissen: »Woher hast du gewusst, dass ich komme?«
Janis lächelte leicht. »Marija. Sie hat mich ihn Mitau angerufen.«
»Marija?« Malu traute ihren Ohren nicht. »Deine Frau?«
Janis nickte. »Sie weiß von uns.«
»Wie … wie?« Malu fand keine Worte.
Janis fasste über den Tisch nach ihrer Hand. »Sie weiß von uns. Sie hat von Anfang an gewusst, dass ich eine andere Frau liebe. Ich konnte und wollte ihr nichts vormachen. Das hat sie nicht verdient.«
»Und da hast du ihr von uns erzählt?« Malu schüttelte den Kopf.
»Ich habe keinen Namen genannt. Und ich habe ihr versprochen, dass ich ihr ein guter Freund, ein guter Kamerad sein werde, solange ich lebe. Aber lieben, das kann ich nur ein einziges Mal. Und als du heute zu ihr gekommen bist, hat sie sofort gewusst, dass du es bist. Und sie hat mich angerufen.«
»Mein Gott!« Malu verbarg das Gesicht vor Scham in den Händen. »Was hat sie gesagt?«
»Sie hat gesagt: ›Wenn du sie noch einmal sehen willst, dann warte an der Droschkenstation auf sie.‹«
»Das war alles? Keine Vorwürfe, keine Tränen?«
Janis schüttelte den Kopf. »Keine Vorwürfe, keine Tränen.«
»Und du bist gekommen.« Noch vor Stunden hätte Malu nicht den geringsten Zweifel gehabt, dass Janis alles unternehmen würde, um sie zu treffen. Aber nun, da sie sein Zuhause gesehen hatte, fragte sie sich, warum er dennoch gekommen war.
Janis schien ihre Gedanken gelesen zu haben: »Weil ich dich liebe. Du bist mein Licht, mein Leben. Das weißt du.«
»Ein Licht kann verlöschen«, entgegnete Malu und versuchte vergeblich, das Bild Marijas mit dem kleinen Jungen auf dem Arm aus ihren Gedanken zu verdrängen.
»Nein.« Janis sprach voller Überzeugung. »Dieses Licht verlöscht niemals. Es wird das Letzte sein, was ich sehe, wenn ich diese Welt verlasse.«
Malu betrachtete ihn. Er besitzt alles, was er sich je erwünscht hat, dachte sie. Er hat eine Frau, die ihn so sehr liebt, dass ihr sein Glück wichtiger ist als das eigene. Er hat einen Sohn und ein kleines, ertragreiches Gut. Und er hat dazu noch mich. Einen Traum, eine Sehnsucht, die sich niemals erfüllen wird. Er hat alles, was er braucht zum Glück. Und er weiß es nicht. Sein Leben ist perfekt. Und ich? Was habe ich?
»Ich werde heiraten.« Sie wusste nicht, wie diese Worte in ihren Mund gekommen waren. Sie blickte Janis an, suchte nach einem Zeichen von Schmerz, aber da war nichts.
Er sah sie ruhig an und nickte. »Ist er ein guter Mann?«
»Ein Arzt. Er hat versprochen, sich um mich und meine kleine Tochter zu kümmern.«
Jetzt sah sie, was sie hatte sehen wollen. Sein Blick verdunkelte sich, er kniff die Augen zusammen. »Eine Tochter?«
Malu nickte. »Sie heißt Viola.«
Janis’ Hände spielten mit dem Glas. Er starrte auf die Tischplatte. »Du
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