Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
Doch wenn die Jungs Pause hatten, änderte sich das Verhältnis. Aus dem zurückgebliebenen, schwerfälligen Ruppert wurde mit einem Mal ein junger Mann, der genau wusste, was er wollte, und der andere zu manipulieren verstand. Hinter dem Ziegenstall der Mohrmanns rauchte er Maispapirossy und schüttete sich aus vor Lachen, wenn Johann sich vor lauter Husten krümmte.
Auf dem Nachhauseweg ließ Ruppert keine Gelegenheit ungenutzt, um Malu zu ärgern. Mal bewarf er ihr Kleid mit Mist, sodass sie zu Hause von Ilme ausgeschimpft wurde. Mal steckte er ihr beim Laufen einen Stock zwischen die Beine, sodass sie stolperte und hinfiel. Und stets lachte er sich dabei kaputt. Er war mittlerweile achtzehn Jahre alt und hätte eigentlich bald das große Examen in der Tasche haben sollen – so wie Johann, der im Sommer in Riga seine Abiturprüfungen machen würde. Doch Ruppert schlug sich immer noch mit dem Stoff der achten Klasse herum.
Eines Tages – es war so kalt, dass Malu die Hände vor das Gesicht hielt und ihren heißen Atem darauf blies – blieb Ruppert auf dem Heimweg plötzlich wie angewurzelt stehen. Er stöhnte gottserbärmlich, hielt sich den Bauch, dann verdrehte er die Augen und fiel mit verdrehten Gliedern zu Boden.
Sofort eilte Malu zu ihm. »Was ist los, Ruppert? Was ist?« Ihre Stimme war voller Angst. »Ruppert, so sag doch etwas!« Sie kniete sich neben ihn, rüttelte an seinen Schultern und strich ihm über das Gesicht, doch der junge Mann rührte sich nicht. Malu brach in Tränen aus und rief lauthals um Hilfe. Noch immer gab Ruppert kein Lebenszeichen von sich. Schließlich beugte sie sich über ihn, öffnete seinen Mund und blies ihren Atem hinein. Gleichzeitig presste sie ihm beide Hände auf die Brust.
»Lass mich mal!« Eine Hand griff ihre Schulter, Johann war gekommen.
Er kniete sich neben Ruppert in den Schnee und drückte auf dessen Brustkorb. Als Johann tief Atem holte, schlug Ruppert mit einem Mal die Augen auf und wollte sich wieder einmal totlachen über die Gutgläubigkeit seiner Schwester. Doch als er Johanns Blick sah, erstarb das Lachen in seiner Kehle.
»Wenn du das noch ein Mal tust, dann schlage ich dich windelweich«, drohte Johann.
Ruppert verzog den Mund. »Du? Du willst mich schlagen? Hast du vergessen, dass ich dein Herr bin, dass du von meinem Geld lebst? Du gehörst mir – genau so, wie mir die Pferde in unserem Stall gehören, die Hunde auf dem Hof und die Wäsche auf der Leine. Schon morgen kann ich dich und deine Familie vom Hof jagen, schließlich wohnt ihr auf unserem Grund. Ich könnte Vater auch überreden, die Pfarrstelle gänzlich einzusparen. Wenn du Hand an mich legst, sorge ich dafür, dass man dich tötet.«
»Ruppert! Wie kannst du so etwas sagen!« Malu blickte ihren Bruder entsetzt an.
Aber Ruppert zuckte nur verächtlich mit den Schultern. »Ich kann alles sagen, was ich will. Ich bin der Erbe von Gut Zehlendorf. Und Mutter werde ich erzählen, dass du mich um ein Haar hier draußen in der Kälte hättest sterben lassen.«
»Aber das ist nicht wahr!«, rief Malu. »Du hast nur getan, als ginge es dir schlecht.«
Wieder zuckte Ruppert verächtlich mit den Schultern. »Na und? Wem wird man glauben? Mir oder dir?«
Er stand auf, spuckte vor ihr in den Schnee und lief davon.
Fünftes Kapitel
Gut Zehlendorf (Lettland), 1905
S ieh dich vor, Malu. Er ist hinterhältig.«
Malu ließ sich von Johann auf die Beine helfen und nahm dankbar sein Taschentuch entgegen. »Er ist mein Bruder«, schluchzte sie. »Größere Brüder sind nun einmal so. Sie ärgern ihre Schwestern.«
Johann schüttelte den Kopf. »Nicht so, Malu. Nicht so wie Ruppert. Große Brüder necken ihre Schwestern, aber sie beschützen sie auch. Hat Ruppert dich jemals beschützt?«
»Nein«, flüsterte Malu. »Du hast mich beschützt, hast früher die Jungen verhauen, die mich geärgert haben. Du hast mich getröstet, wenn ich mir wehgetan habe.« Sie blickte ihn verwundert an. »Immer wenn ich einen großen Bruder gebraucht habe, warst du da. Schon damals, als ich mich im Wald verlaufen hatte.«
Zum ersten Mal fiel ihr dies auf. Sie musste daran denken, wie Johann ihr das Fahrradfahren auf dem Rad von Verwalter Schwarzrock beigebracht hatte. Und wie er ihr geholfen hatte, die verletzte Krähe zu pflegen. Wie lange tat er das schon? Malu kniff die Augen zusammen und erinnerte sich an einen heißen Tag im August. Sie hatte draußen gespielt, mit Constanze und Johann. Ihre Mutter hatte
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