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Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Titel: Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Winter
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auf ihrem Liegestuhl unter dem Apfelbaum gelegen und laut aufgestöhnt, sobald die Kinder ein wenig Lärm machten. Dann waren sie im Teich auf dem Gutsgelände schwimmen gegangen, und Malu war mit nacktem Fuß auf einen kleinen spitzen Stein getreten, der sich tief ins Fleisch gebohrt hatte. Ihre Mutter lag in Sichtweite, doch als Malu nach ihr rief, hielt sich die Freifrau einfach nur die Ohren zu und verzog unwillig das Gesicht. Da nahm Johann sie auf den Arm und trug sie zu Ilme in die Küche. Er hielt ihre Hand, als die Hofmeisterin ihr das Steinchen aus dem Fuß zog und Jod auf die Wunde tröpfelte. Und er sagte ihr, wie tapfer sie gewesen sei. Seither war Johann stets an ihrer Seite gewesen, immer da, wenn sie ihn gebraucht hatte. So wie jetzt.
    Malu blickte ihn an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Das schmale Gesicht mit den Augen, die wie der See an einem heißen Sommertag glänzten. Das harte helle Haar, das nach allen Seiten abstand und sich auch mit Zuckerwasser nicht bändigen ließ. Die etwas zu lange Nase, auf der sich ein paar Sommersprossen zeigten. Seine Schultern, die breiter geworden waren seit dem letzten Sommer. Und die immer noch viel zu langen Arme und Beine, die an ihm herumschlenkerten, als wäre er eine Marionette.
    »Danke«, sagte Malu leise.
    »Wofür?«
    »Danke, dass du so bist, wie du bist.« Dann drehte sie sich um und rannte zum Gutshof.
    Als sie das Vestibül betrat, liefen ihr die Stubenmädchen über den Weg.
    Ilme stand auf der zweiten Stufe der geschwungenen Treppe und erteilte schreiend Anweisungen: »Lenka, das Silber musst du in Ölpapier wickeln, dann trag es zu den Knechten; sie sollen es im Garten vergraben. Mascha, pack den Schmuck der gnädigen Frau in Samt. Alles, ja, jedes Stück. Leg mir die Sachen in die Küche. Und das gute Geschirr, Krystyna, das verstau in den Kisten mit der Holzwolle. Mein Mann wird sie nachher auf dem Dachboden verstecken. Ach ja, der Weinkeller muss vernagelt werden. Und die Würste aus der Räucherkammer, die müssen auch noch weg.«
    Malu betrachtete das Gewimmel staunend. »Was ist los, Ilme? Verreisen wir?«
    »Ach, Kind, ich habe keine Zeit jetzt. Frag deinen Vater; er ist in seinem Arbeitszimmer. Pack du nur zusammen, was dir wertvoll ist, und sag mir Bescheid, dann werden wir deine Schätze auch verstecken.«
    »Verstecken? Ostern ist noch Wochen hin.«
    »Bitte keine Scherze, dazu ist die Lage viel zu ernst. Frag deinen Vater, ich kann jetzt nicht.«
    Ilme wandte sich ab und begann erneut zu schreien: »Um Gottes willen, Marenka, wo willst du denn mit den Pelzen der gnädigen Frau hin?«
    Malu zuckte mit den Schultern und begab sich in das Arbeitszimmer, das neben der Bibliothek hinter dem Salon lag.
    Wolfgang von Zehlendorf stand an seinem Schreibtisch und ordnete Papiere. Der Tresor, der normalerweise unter einem Landschaftsbild verborgen war, stand weit offen. Auch der Waffenschrank war geöffnet, und auf einem Tisch lagen Schachteln mit Munition.
    »Was ist los, Vater? Was geht hier vor? Ilme schreit, als wäre sie in Gefahr. Und du? Du hast den Waffenschrank geöffnet.«
    Wolfgang von Zehlendorf fuhr herum. »Es wird ernst, Malu. Die Ausschreitungen von St. Petersburg haben auf Lettland übergegriffen. Wir müssen gewappnet sein.«
    Malu ließ sich in einen ledernen Clubsessel fallen. »Ausschreitungen?«, fragte sie. »Was haben wir damit zu tun? Ich dachte, die Arbeiter in St. Petersburg streiken.«
    »Nicht nur dort. Auch in Riga gab es Streiks und Demonstrationen. Und auch in Riga wurde geschossen. Wie viele Tote es gab, das weiß ich nicht. Und gestern haben sich die Landarbeiter, Knechte und Dienstmägde erhoben. In Mitau haben sie dem Bürgermeister eine Erklärung vorgelegt. Sie wollen mehr eigenes Land, wollen Agrarreformen, wollen ihre eigene Religion leben. Außerdem verlangen sie, dass sie weniger Abgaben leisten müssen und Lettisch als Sprache anerkannt wird.«
    Malu verstand immer noch nicht, welche Auswirkungen diese Ereignisse auf ihr eigenes Leben und das ihrer Familie hatten. »Was haben wir damit zu tun? Auf Gut Zehlendorf ist doch alles in Ordnung. Den Leuten geht es gut, sie sind zufrieden. Großvater hat ihnen sogar ein eigenes russisch-orthodoxes Gebetshaus bauen lassen. Ich hatte wirklich nie den Eindruck, als müssten die Leute leiden. Im Gegenteil.«
    Ihr Vater seufzte. »Malu, so einfach ist das nicht. Natürlich müssen sie nicht leiden. Manchmal reicht das aber nicht aus, damit die Leute friedlich

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