Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
weil er anders dachte. Es gab auch keinen Grund, Deutschland über alles zu stellen. Für das Vaterland zu sterben – welche Mutter wünschte ihrem Sohn einen solchen Tod? Vor allem, wenn das Vaterland nach dem Kriege diejenigen vergaß, die für es ins Feld gezogen waren. Nein, Malu mochte die Braunen nicht.
Constanze hingegen war angetan von den starken Männern und ihren markigen Sprüchen. Lothar von Hohenhorst, der seit geraumer Zeit ihr ständiger Begleiter war, trug selbst eine solche Uniform, jedoch keine einfache, sondern eine mit den Abzeichen eines höheren Rangs. Auch würde er sich niemals dazu herablassen, auf der Straße Lieder zu brüllen oder in Schankwirtschaften einzudringen und Arbeiter zu verprügeln. Nein, so etwas tat ein von Hohenhorst nicht.
»Warum macht er dir keinen Antrag?«, hatte Malu schon vor einer ganzen Weile gefragt. »Ihr geht schon so lange miteinander aus. Hat er irgendwo eine Verlobte?«
Constanze hatte den Kopf geschüttelt. »Nein, das hat er nicht. Aber auch so wird er mich nicht heiraten, mich nicht und auch keine andere Frau.«
»Oh!« Malu verstand und verstand zugleich doch nicht. Warum ging Constanze dann weiter mit ihm aus? Hoffte sie darauf, dass der Druck der von Hohenhorsts Lothar irgendwann doch noch dazu bringen würde, eines Tages vor den Altar zu treten?
Constanze sprach nicht darüber. Seit sie in einer kleinen Seitenstraße der Kantstraße wohnten und jede von ihnen ein eigenes Zimmer besaß, waren sie einander fremd geworden. Constanze schien mit beiden Beinen mitten im Berliner Leben zu stehen. Sie kannte die neuesten Schlager, die neueste Mode, den neuesten Klatsch. Malu hingegen nahm so gut wie gar nicht an diesem Leben teil. Manchmal ging sie am Sonntag zum Pferderennen nach Hoppegarten. Doch sie tat das nicht etwa aus Liebe zum Pferdesport, sondern nur, um die Kleider der Damen zu betrachten.
Und eines Tages sah sie dort aus der Ferne Constanze. Es war ein heißer Sommertag, und die Freundin trug ein weißes Kleid im griechischen Stil, das Malu ihr geschneidert hatte. Sie sah wunderschön aus in diesem Kleid, hoheitsvoll und beinahe königlich. Mit geradem Rücken lehnte Constanze an einem Stehtisch, der mit Sektgläsern überfüllt war. Sie hielt eine silberne Zigarettenspitze in der Hand, und ihre blutroten Fingernägel blitzten auf, sobald sie einen Zug an der Zigarette nahm. Ein junger Mann sprach auf sie ein, und Malu, die zunächst glaubte, Constanze endlich glücklich zu sehen, erschrak über die Langeweile und den Überdruss im Gesicht ihrer Freundin.
Sie wirkt so satt, dachte Malu. So satt an allem. Satt an Kleidern, an Aufmerksamkeit, satt an Sekt und Leberpastete. Es schien ihr beinahe, als hätte das gute, reiche Leben Constanzes Herz fett gemacht. Es mit einer Speckschicht umgeben, durch die nichts mehr dringen konnte.
Zum ersten Mal kam Malu der Gedanke, dass sie ihrer Freundin womöglich geschadet hatte. Und sie begriff, dass Constanze nicht glücklich war. Aber ebenso wenig wusste sie, was die Freundin wirklich brauchte.
Sie ist erwachsen, beruhigte sich Malu und glaubte doch nicht, dass dies stimmte. Sie trägt Verantwortung für sich selbst. Sie muss wissen, was sie tut, dachte sie und fühlte sich doch schuldig dabei. Schmal war Constanze geworden. Das einst so frische Gesicht mit den hochstehenden Wangenknochen wirkte eingefallen. Ihre Schulterblätter drückten sich durch den dünnen Stoff, und neben Constanzes Hals bildeten sich kleine Vertiefungen. Ihre Augen waren dunkel umschattet, und alles in allem sah sie aus wie eine Frau, die litt, die gelangweilt und des Lebens überdrüssig war.
Malu konnte plötzlich Constanzes Anblick nicht mehr ertragen. Sie wandte sich ab und machte sich auf den Weg nach Hause, ohne den Kleidern der Frauen, den Hüten, Handschuhen, Spazierstöcken und Taschen weiterhin Aufmerksamkeit zu schenken. Sie fühlte sich schuldig, ohne genau zu wissen, worin ihre Schuld bestand.
Unterwegs, an einer U-Bahn-Station, kaufte sie sich das Berliner Tageblatt . Sie tat das sonst nie, aber jetzt wollte sie sich ablenken, um nicht nachdenken zu müssen. Sie wollte auch die Bettler nicht sehen, die jungen Männer mit den erloschenen Augen, die ihre Hand vorstreckten. Oder die jungen Mädchen, die kaum sechzehn Jahre alt waren und vor dem Bahnhof Zoo schon ihre Körper anboten.
Malu war froh, als sie in der Untergrundbahn saß. Sie schlug die Zeitung auf und las zuerst die letzten Seiten mit den Anzeigen und
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