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Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Titel: Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Winter
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lokalen Nachrichten. Am Vortag hatte es in Berlin acht Selbstmorde gegeben: zwei Ehepaare, die statt des Hungertods den Freitod gewählt hatten, eine junge Mutter, die ihre beiden Kinder nicht mehr ernähren konnte, ein junges Mädchen, das sich im Wannsee ertränkt hatte, und zwei Männer, von denen der eine sich vor einen Zug geworfen und der andere sich im Tiergarten erhängt hatte. Malu erschauerte und schlug die Zeitung zu. Da war es besser, sie sah aus dem Fenster. Doch dort spiegelte sich die Schlagzeile des Berliner Tageblatt , das sie auf den Knien hielt. Und so blickte sie wieder auf die Zeitung und las, dass die Inflation weiter voranschritt.
    Wie gut, dachte Malu, dass ich das Geld, welches ich mit den Kleidern verdiene, sofort ausgebe.
    Tatsächlich hatte sie in der letzten Zeit sehr viel gekauft: eine goldene Armbanduhr und einen Pelz für Constanze, teure französische Parfüms, Seidenstrümpfe. Den Rest des Geldes hatte sie in Dollar umgetauscht, jedes Mal zu einem schlechteren Kurs, doch der Dollar versprach Stabilität, schwankte längst nicht so wie die Deutsche Mark.
    Einen Teil ihres Vermögens hatte sie von Riga nach Zürich transferiert. Dort lag es jetzt in Schweizer Franken. Malu hatte immer gedacht, dass sie nicht besonders geschäftstüchtig sei, doch jetzt schien es, dass ihr der Vater doch mehr mitgegeben hatte, als ihr selbst bewusst gewesen war. Denn es hatte sich gezeigt, dass sie Geschäftssinn hatte, und deshalb waren ihre Kleider, die sie unter der Marke »Malu« vertrieb, auch so erfolgreich. Innerhalb eines Jahres hatte Malu zwei Näherinnen einstellen müssen, die in Heimarbeit die einfachen Teile nähten. Bald, das wusste sie, würde auch die Zweizimmerwohnung nicht mehr ausreichen. Sie träumte von einem Atelier am eleganten Kurfürstendamm, doch sie hütete sich, zu schnell zu hoch hinauszuwollen. Fürs Erste musste die Wohnung reichen.
    Am Bahnhof Wilmersdorfer Straße stieg Malu aus. Sie floh vor den Bettlern und Kriegsversehrten, die auf den Stufen hockten, und eilte heim. Als sie das Haus betrat, in dem sich ihre Wohnung im zweiten Stock befand, wurde sie von der Concierge im Flur abgefangen.
    »Da ist een Brief für dett jnädije Frollein«, teilte die Frau ihr mit und wedelte mit dem Schriftstück. Hier im Haus hatten sich Malu und Constanze jeweils unter dem Namen der anderen eingetragen, sodass die Concierge Malu für Constanze hielt.
    »Geben Sie ihn mir, ich werde ihn prompt weiterleiten.«
    Die Concierge verbarg den Brief in ihrer Schürzentasche und schüttelte den Kopf. »Dett is een Einschreiben«, erklärte sie wichtig. »Dett kann ick nur Frollein von Zehlendorf persönlich aushändijen. Schließlich habe ick mir mit meim juten Namen dafür verbürjt.«
    »Ein Einschreiben?« Malu erschrak. Einschreiben verhießen für gewöhnlich nichts Gutes. Vielleicht war etwas mit der Mutter geschehen? Womöglich ging es Ruppert nicht gut? Oder – ihr Herz setzte einen Moment lang aus – Janis war etwas zugestoßen. Am liebsten hätte Malu der Concierge das Schreiben aus den Händen gerissen, doch sie wusste, dass sie die Frau auf diese Art nicht zur Herausgabe zwingen konnte. Also setzte sie den hochnäsigsten Gesichtsausdruck auf, zu dem sie fähig war. »Ich bin nicht nur die Gesellschafterin Fräulein von Zehlendorfs, ich bin auch ihre Sekretärin. Wenn Sie mir die Post für das gnädige Fräulein nicht aushändigen, kann sie sehr ungemütlich werden.«
    Die Concierge verzog nicht einmal den Mund, sondern presste nur ihre Hand auf die Tasche der Kittelschürze.
    Malus Blick fiel auf die Haustafel. Einige Namensfelder waren blank, und sie wusste, dass diese Wohnungen leer standen. Eine ganze Weile schon, denn die armen Leute konnten sich die Gegend nicht leisten, und die Reichen wohnten ganz woanders. Früher war das ein Viertel gewesen, wo die gehobene Mittelschicht gelebt hatte. Ärzte, Rechtsanwälte, Beamte und Lehrer hatten hier gewohnt. Doch diese Mittelschicht gab es kaum noch, hatte ihr die Hausmeisterin erzählt.
    Malu zuckte scheinbar gleichgültig mit den Schultern. »Ganz wie Sie wollen«, erklärte sie. »Wir hatten erwogen, eine weitere Wohnung hier zu mieten, doch bei solch geringem Entgegenkommen Ihrerseits werden wir uns wohl nach etwas anderem umsehen müssen.«
    Das half. Die Concierge, die auch von den Trinkgeldern ihrer Mieter lebte, griff in ihre Tasche. Sie holte das Schreiben hervor, presste es einen Augenblick an ihre Brust und reichte es dann

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