Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
einem ergebenen Seufzer ließ sich Ruppert in den Ledersitz zurücksinken und steckte sich eine ägyptische Zigarette an. Der Rauch blieb in einer kleinen Schwade über dem Karren mit den Beinamputierten hängen. Die stießen die Nasen in die Luft und sogen den würzigen Geruch ein.
Verdrießlich warf Ruppert die erst halb gerauchte Zigarette aus der Droschke, und sofort stürzten sich zwei darauf, die an Krücken gingen. Die beiden sogen gierig an dem Stummel und gerieten beinahe noch in Streit um den letzten Zug.
»Da siehst du es. Sie sind wie Tiere«, sagte Ruppert verächtlich und nickte, als hätte er all das schon längst gewusst. »Keine Ehre im Leib, keinen Stolz, nichts.«
»Halt den Mund!«, zischte Constanze.
Dann folgten die Blinden. Manche wurden von Unversehrten geführt, einige tippten mit Stöcken vor sich auf den Boden, damit sie nicht in die Irre liefen. Ein Einäugiger stieß mit einem Mann zusammen, dessen Körper von zwei Krücken gehalten wurde. Einige Demonstranten hielten Plakate in die Luft. Auf einem war zu lesen: »Beschossen an der Somme, beschissen in Berlin.« Auf einem anderen stand: »Elend, Hunger, Not. Am liebsten wäre euch, wir wären tot.«
Über Constanzes Gesicht rannen Tränen.
Malu fasste nach ihrer Hand. »Wir haben es doch gewusst«, flüsterte sie. »Im Lazarett in Mitau, da war es doch ebenso.«
»Ja«, erwiderte Constanze leise. »Aber da herrschte noch Krieg. Und jetzt denken doch die meisten, dass Frieden ist. Aber es gibt keinen Frieden. Der Krieg steckt uns noch in den Knochen und Gliedern.« Dann öffnete sie ihre gestickte Börse und warf, was sie an Geld darin hatte, in die Masse. Sie konnte nicht mehr aufhören zu weinen.
Plötzlich näherte sich von hinten eine Gruppe von jungen Männern in Braunhemden. Sie trugen ebenfalls Plakate. Eines trug die Aufschrift: »Niemals mehr Not, niemals mehr Hunger, Adolf Hitler stillt euern Kummer!« Und auf einem anderen stand geschrieben: »Weg mit dem Schandvertrag von Versailles!«
Die jungen Männer hatten den Demonstrationszug erreicht. Sie verschenkten Bonbons und Lutscher an die ausgemergelten Kinder, halfen, die Karren mit den Krüppeln zu schieben. »Kommt zu uns, Kameraden!«, tönte es von überall. »Adolf Hitler wird euch helfen. Er wird euch rächen, wird für Gerechtigkeit sorgen.«
Immer lauter redeten die Braunhemden auf die Krüppel ein. Zunächst hielten nur einige von ihnen an, dann wurden es immer mehr. Schließlich kam der Demonstrationszug zum Stehen. Die Braunhemden grinsten, holten weitere Lutscher und Bonbons aus ihren Taschen und verteilten sie. »Das Vaterland ist euch großen Dank schuldig!«, brüllte ein Braunhemd. »Adolf Hitler wird dafür sorgen, dass ihr diesen Dank bekommt!«
Malu schüttelte den Kopf. »Ich kann ihn nicht ausstehen, diesen Kerl.«
Zwanzigstes Kapitel
Berlin, 1922
E r hat nicht unrecht, der Hitler«, erklärte Ruppert, als sie in der Küche bei einem Kaffee saßen.
Vor einer Stunde hatte Ruppert die kleine, gepflegte Wohnung betreten, weder die hübschen Vorhänge noch die bunten Läufer eines Blickes gewürdigt und nur die Nase über die Enge gerümpft. »Und wo soll ich schlafen?«, hatte er vorwurfsvoll gefragt.
»Frag Constanze, ob sie einstweilen bei mir schläft«, antwortete Malu und seufzte. »Dann kannst du ihr Zimmer haben.«
Aber Ruppert fragte Constanze nicht, sondern stellte einfach sein Gepäck in ihr Zimmer, öffnete die Schranktüren und warf ihre Kleider auf das Bett. Und Constanze nahm wortlos die Kleider auf und quetschte sie in Malus Schrank. Dann hatte Ruppert nach frischem Wasser verlangt und es auch bekommen.
Und nun saß er, noch etwas erschöpft von der Reise, aber bereits voller Tatendrang und angefüllt mit ersten Eindrücken in der Küche, starrte aus dem Fenster auf den Lindenbaum davor und wiederholte: »Der Hitler hat nicht unrecht.«
»Wie kannst du so etwas sagen?«, fragte Malu verwundert. »Dieser Mensch ist laut und schrill. Er hat keine Manieren. Die Männer in den Uniformen sind Rüpel, die Schwächere prügeln. Nein, ein solcher Mann ist nicht gut für das Land.« Sie unterdrückte einen Seufzer. Ruppert war seit der Abdankung des Zaren deutscher geworden als jeder, der sein Leben lang in Deutschland verbracht hatte.
»Und ich sage, er hat recht. Der Versailler Vertrag ist ein Schandvertrag. Wie stehen wir Deutschen nun in der Welt da? Kein Wunder, dass die Renten so niedrig sind, dass die Krüppel kein Auskommen
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