Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
Brüder herbei, stellt ihnen Jemma vor und erklärt ihnen, was vor gerade einmal einer Stunde zwischen ihnen passiert ist.
Gotardo bekommt eine grunzende Antwort im Dialekt, den Jemma nicht verstehen kann, dann gratulieren ihr die Brüder mit einem derart süffisanten Lächeln, dass sie nicht umhin kann, sich zu wundern, was da vor sich geht. Wie die lächerlichen Bösewichte eines Puppentheaters oder einer Commedia dell’ Arte nehmen sie jedoch gleich darauf ihre gut einstudierten Rollen ein. Diesmal sprechen sie langsamer, und Jemma – die von Gotardo einiges an Dialekt aufgeschnappt hat – kann ihnen folgen. Battista beklagt sich theatralisch bei Aquilino über den Mangel an Tessiner Mädchen in der Stadt und erklärt, sich aber nicht mit weniger zufriedengeben zu wollen.
Jemma verfolgt, wie sich in Gotardo, der zwischen brüderlicher Verpflichtung und seinem Bestreben, sie zu verteidigen, hin- und hergerissen ist, alles sträubt und er sich fast die Zunge abbeißt. Aber sie sagt sich, dass es keinen Grund gibt, weshalb sie nicht selbst das Wort ergreifen sollte. Und als mache sie bloß Konversation, ohne zu ahnen, was verlautet wurde, lässt sie eine Bemerkung über die vielen italienischen Männer in diesem Bezirk fallen, die englische oder irische Frauen haben.
Die beiden Brüder sehen sich verdutzt an.
»Die werden vermutlich keine andere Wahl gehabt haben«, erwidert Battista schließlich. Und fügt dann mit festem Blick auf Gotardo hinzu: »Manche haben eben mehr Chancen als andere.«
Als Aquilino und Battista schließlich ihrer Wege gegangen sind, nimmt er Jemma an der Hand. »Sie denken wohl, du bringst Ärger«, lacht er.
»Ich hätte nichts sagen sollen. Das war unüberlegt und unhöflich von mir.« Warum hat sie das getan? Sie hätte genauso gut schweigen können. Was auf lange Sicht besser für beide Seiten gewesen wäre.
Gotardo schüttelt langsam den Kopf und grinst. Sein ganzes Leben hat er sich damit auseinandersetzen müssen, von seinen Brüdern geneckt zu werden, musste ihre Spottnamen und Sticheleien ertragen. Doch wenn er ehrlich ist, hat es sich gelohnt.
9
Wenn Marcus O’Brien sein jetziges Leben betrachtet, denkt er nicht mehr an sein kleines dunkles Zimmer. Er denkt an das sonnige Holzhäuschen, das er auf der Westseite von Wombat Hill bewohnt. Abends, wenn er frei hat, sitzt er auf der Gartenveranda mit Blick auf die Hochebene von Elevated Plains und stellt sich vor, dass Jemma neben ihm sitzt und sie gemeinsam den Sonnenuntergang betrachten. Er zweifelt nicht daran, dass er den richtigen Schritt getan hat. Schon wenige Tage nach seiner Ankunft hat sein Kanarienvogel wieder zu singen angefangen. Denn er hat ein neues Weibchen gekauft und plant, im Frühjahr mit der Zucht zu beginnen. Es gibt im Bezirk viele Bergarbeiter, die einen guten Preis dafür zahlen würden, einen Kanarienvogel unten in ihrem Schacht dabeizuhaben. Aus Erfahrung weiß er, dass man für die Zucht Geduld braucht. Man muss sehr genau beobachten und die richtigen Zeichen erkennen, dass Männchen und Weibchen bereit sind. Das Weibchen reißt an dem Papier auf dem Käfigboden, um ein Nest zu bauen. Das Männchen fängt sofort zu trällern an, wenn sein Käfig neben den ihren gestellt wird. Die Vögel »küssen« sich durch die Gitterstäbe. Bringt man sie zu schnell zusammen, fangen sie zu kämpfen an.
Marcus O’Brien war immer gut darin gewesen, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Als Junge hatte er tägliche Schläge ausgehalten und zusehen müssen, wie seine Mutter das gleiche Los ereilte, und so lange abgewartet, bis er genügend Kraft hatte, seinem Vater die Stirn zu bieten. Dieser Augenblick war gekommen, als er fünfzehn Jahre alt war, ein dürrer Kerl, aber ausgestattet mit jugendlichen Reflexen, die sein Vater schon lange weggesoffen hatte. Paddy O’Brien bekam gar nicht mit, wie Marcus’ linker Haken ihn bewusstlos niederstreckte. Als der Junge danach auf seinen Vater hinabschaute, der alle viere von sich gestreckt auf dem Küchenboden lag, die Wangen blutverschmiert, bedauerte er nur, es nicht schon eher getan zu haben, denn dann hätte er seiner Mutter viel Kummer erspart.
Auch in der Schule hatte er den rechten Zeitpunkt abgewartet und seinen Lehrern und Mitschülern nur einen kleinen Vorgeschmack auf das gegeben, was er zu Hause ertragen musste. Nachdem er jedoch seinen Vater niedergeschlagen hatte, sollte ihm kein Lehrer mehr Vorschriften machen. Der alte Erasmus Musk zeichnete sich dadurch
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