Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
den Serafinis und verschiedenen anderen Familien, deren Verbindungslinien Jemma erst noch aufdecken muss, das Heft in die Hand genommen.
Um sechs Uhr morgens klopft es an der Tür zum Tearoom. Es ist ein altes Ritual, und Celestina hat Jemma vorgewarnt, damit sie darauf vorbereitet ist.
Auf der anderen Seite der Tür erklärt Gotardo, dass er gekommen ist, um seine Braut abzuholen. Nach einigem Wortgeplänkel öffnet Celestina die Tür, und Gotardo tritt ein, gefolgt von einer lauten Meute Verwandter und Freunde. Sobald er Jemma sieht, bleibt er stehen. Er kann sein Glück noch immer nicht fassen. Nie hat sie reizender ausgesehen. Feierlich reicht er ihr den Arm, und als über der Stadt der neue Tag anbricht, führen sie die Prozession über die Hauptstraße den Berg hinauf zur Kirche an.
Erst als die schneidend kalte Morgenluft den dünnen Stoff ihres Kleides durchdringt, erschaudert Jemma und muss an Marcus O’Brien denken. Sie schielt an Gotardos Arm hinab, der ihren kraftvoll stützt. O’Brien wird doch bestimmt nicht seinen Arbeitsplatz oder seine eben erst erlangte Berühmtheit aufs Spiel setzen, indem er die Zeremonie stört? Aber dennoch wäre es denkbar, dass er sich auf die eine oder andere Weise bemerkbar macht. Als sie in die Tuck Street abbiegen und mit dem Anstieg hoch zur Kirche beginnen, sucht sie die Menge nach bekannten Gesichtern ab.
Jetzt hört Jemma bereits die Orgel, das Brausen ihrer kraftvollen Akkorde, die in einem gewaltigen Klangwasserfall herabstürzen. Sie betreten die große in Stein gebaute Kirche. Ihr Blick richtet sich den Gang hinunter auf den Priester, der am Altar auf sie wartet, und streift dann rasch die Gemeinde. Marcus ist nicht darunter. Sie sagt sich, sie brauche sich keine Sorgen mehr zu machen. Die schweren Holztüren schließen sich hinter ihnen, und Jemma lässt sich von der Zeremonie mitreißen. In dem Moment, da sie vor den Priester treten, glaubt sie, ihren Vater neben sich zu spüren. Es ist eine höchst merkwürdige Empfindung, denn sie kann den Tabak an ihm riechen und spürt seine überwältigende Liebe. Doch die Angst, die sie daraufhin erfasst, ist so groß, dass sie es nicht wagt, den Mann anzuschauen, der ihren Arm hält. Stattdessen beobachtet sie den Staub, der in einem Lichtstrahl tanzt, und staunt über die Kraft des Herzens, Vergangenes wieder lebendig werden zu lassen.
Der Priester beginnt zu sprechen, und sie schielt nach rechts. Durch das zarte Gewebe ihres Schleiers sieht sie Gotardo, der sich ihr mit einem glückseligen Lächeln zuwendet. Durch die Buntglasfenster strömt das Morgenlicht herein. Der Priester murmelt lateinische Worte und hebt seine Hände. Seine Stimme steigt und fällt. Dann hebt Gotardo ihren Schleier und küsst sie.
Und plötzlich sind sie Mann und Frau.
Teil II
11
Vom Aussichtsturm auf dem Wombat Hill lässt Nathaniel Byrne – der Geologe der Victorian Geological Survey, des Vermessungsamtes von Victoria – durch ein an die Augen gedrücktes Fernglas seinen Blick über die Landschaft schweifen. Die Gebäude der Stadt zu seinen Füßen nimmt er kaum wahr, sie bedeuten nur einen kindlichen Auswuchs der Zivilisation, den Bruchteil einer Sekunde in der gewaltigen Zeitspanne, die unsere Erde bereits besteht. Er weiß, dass die ältesten Städte Europas, ja selbst die Pyramiden von Ägypten kurzlebige Gebilde sind, welche zu Sand zerfallen werden wie der, auf den sie gebaut wurden. Er denkt an einen Zeitraum, der so weit zurückliegt, dass die meisten Menschen vor dem Gedanken daran zurückschrecken. Eine Zeit, in der die Landschaft um ihn herum und unter seinen Füßen sich wie ein lebendiges Wesen bewegte, lebhaft grollte und Rauchsäulen und Aschewolken und glühend heiße Lava ausspuckte, die sich in geschmolzenen Strömen ergoss und fruchtbare Basaltbecken formte, die nun mit Kartoffeln und Mais bestellt werden.
Sein Geist vermag sich mühelos siebenhundert Millionen Jahre zurückzubewegen, in eine Zeit, als die jetzt erloschenen Vulkane, die hier fast überall verstreut die Landschaft mit ihren konischen Buckeln prägen, Gold aus dem Erdmantel spuckten und es im krustigen Gestein ablegten, aus dem die Erosion es später herausholte. Das Gold dieser Adern wurde später in Flussbetten ausgewaschen. Für die Bergarbeiter ist dies alles so verlockend wie eine Gutenachtgeschichte von einem verborgenen Schatz, denn sie wissen natürlich, dass diese Flussbette von späteren Vulkanausbrüchen verschoben und begraben wurden,
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