Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
besichtigen waren. Wenn sie es sich auch noch nicht leisten kann, dorthin zu gehen, kann sie wenigstens die alte Welt durch seine Augen heraufbeschwören und mit ihm über ihre Pläne sprechen.
Als sie eines Nachmittags in Celestinas Tearoom sitzen, fällt Gotardo auf, dass Jemma nicht sie selbst ist, sondern müde und reserviert wirkt. Er spricht sie darauf an, woraufhin sie ihm gesteht, dass sie niedergeschlagen ist.
Gotardo zögert. »Darf ich Sie fragen, was Sie bekümmert?«
Sie bringt es nicht über sich, ihm von Marcus O’Brien zu erzählen. Seit er in die Stadt gekommen ist, findet sie nur schwer Schlaf, und jedes Mal, wenn sie ausgeht, ist sie angespannt. Sie hatte geglaubt, diese Episode ihres Lebens hinter sich gelassen zu haben. Aber langsam begreift sie, wie erschreckend leicht es ist, andere zu missdeuten, davon auszugehen, dass die Menschen die Welt so sehen und empfinden wie man selbst. Und wie sehr man sich täuschen kann. Dabei fällt ihr Mr. Ruskin ein, der die Schwierigkeit des klaren Sehens und gerechten Beurteilens »der Risse und die Adern des menschlichen Herzens« erkannt hat und wusste, wie wenig man tatsächlich von der Welt und den Menschen um einen herum begriff. Indem man nur die Eindrücke des Augenblicks in sich aufnahm, sowohl der Natur als auch des Menschen, diese Eindrücke jedoch oft keine Einblicke waren, sondern nur Spiegelungen der eigenen Sehnsüchte und Ängste.
Sie schweigt so lange, dass Gotardo fragt: »Ist es wegen Paris?«
Jemma lacht bitter. »Ein törichter Traum, Mr. Voletta. In mir wächst langsam die Überzeugung, näher als in diesem Tearoom hier werde ich einem Pariser Café wohl nicht kommen.«
Gotardo beugt sich vor, und seine Ellbogen bringen den Tisch zum Wackeln. »Man kann auch auf andere Weise Künstler sein, Miss Musk. Sie brauchen nicht nach Paris zu gehen! Denken Sie doch an all die Künstler, die Europa verlassen haben, um hierherzukommen, und an die Freiheit, die sie hier gefunden haben. Dort wo ich herkomme, sind wir nicht von der Armut gefangen, sondern von den Vorstellungen der Vergangenheit. Und außerdem, was jetzt nicht möglich ist, mag später vielleicht möglich werden. Sie sind noch so jung!«
Jemma sieht ihn verwundert an. Er hat recht. Das zu sehen, hatte sie sich geweigert. Ihr war es in erster Linie darum gegangen, zu fliehen und sich ein Leben dort drüben auszumalen. Aber sie kann ihr Leben nicht damit zubringen, vor Marcus O’Brien zu fliehen oder sich einzubilden, ihr Leben werde sich auf wunderbare Weise verändern, sobald sie einen Fuß nach Frankreich gesetzt hat. Mr. Voletta verfügt über die Gabe der Perspektive, wie ihr Vater es formuliert hätte. Der Gabe, jemandes Träume und Ängste in einen größeren Rahmen zu stellen.
Erst als ihr Vater starb, hatte sie verstanden, wie wichtig seine Ermutigung gewesen war, wie sehr sie darauf angewiesen war, um an sich selbst glauben zu können. Wo ein andersgearteter Vater ihr gesagt hätte, sie solle mit ihrer Tagträumerei aufhören, sich einen Ehemann suchen und zur Ruhe kommen, hatte Erasmus Musk ihr Gefühl, einer Berufung zu folgen, auf jede nur erdenkliche Weise genährt.
»Sie erinnern mich sehr stark an meinen Vater, Mr. Voletta. Ich wünschte, Sie hätten ihn kennengelernt.«
Gern würde sie seine dicken dunklen Locken und seine olivenfarbenen Wangen berühren. Zeigt sich so die Morgenröte der Liebe? Mit einem schwindelerregenden Begeisterungsrausch für das, was die Zukunft verspricht, und der Erkenntnis, dass man sich nicht allein abmühen muss?
»Wer jemand wie Sie großgezogen hat, Miss Musk, muss ein bemerkenswerter Mann gewesen sein.« Dabei fällt sein Blick auf das Bild Weide mit Butterblumen, das an der gegenüberliegenden Wand hängt. »Wo Talent ist, sollte es gedeihen dürfen. Daran habe ich immer geglaubt.«
»Und ich bin dankbar für Ihren Auftrag. Doch ich sollte Sie warnen, denn das letzte Bild, das ich gemalt habe, hat für Tumult gesorgt.«
Gotardo winkt ab und unterstreicht dies mit einem Boh! , wie Jemma das auch Celestina oft sagen hört. »Kleingeister, Miss Musk. Ich komme aus einem kleinen Dorf. Ich weiß, wie Leute sein können. Man ignoriert sie und führt sein Leben weiter.«
»Mr. Voletta …«
»Gotardo, bitte.«
»Gotardo«, sagt sie weich und rollt das Wort in ihrem Mund. Er trägt den Namen eines Berges. Er wird ihr Fels sein.
»Ich möchte Ihnen danken.«
Der Himmel ist ein weißblauer Flickenteppich. Gelegentlich schaut
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