Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
Gotardo hoch zu den Wolken und denkt dabei an die Geschichte, die Miss Musk ihm zu dem von ihr vorgetragenen Gedicht erzählt hat. Und wenn er am frühen Morgen über die taunassen Weiden stapft und nach den Kühen sucht, die nicht in den Stall gekommen sind, oder abends durch den Busch streift, um Feuerholz zu sammeln, sieht er sich »allein wie eine Kuh« wandern. Und muss jedes Mal lächeln dabei. Ihre Ernsthaftigkeit hat eine spielerische Note, die ihn glauben lässt, von ihr auf eine Weise verstanden zu werden, wie das Felice niemals konnte.
Seit nunmehr drei Wochen malt sie an dem Bild. Anfangs hatte sie sich mit einem kleinen Melkschemel an den Rand der unteren Weide gesetzt und von dort aus die Herde mit schmalen Augen beobachtet und schnelle Skizzen angefertigt. Dabei verlor sie sich so sehr in ihrer Arbeit, dass sie ihn nicht kommen hörte und deshalb aufgeschreckt hochblickte, als sie merkte, dass er da war. Wenn er aus irgendeinem Grund draußen bei seiner Herde ist, überkommt ihn manchmal das Gefühl, zum posierenden Schauspieler zu werden und nicht mehr er selbst sein zu können. Selbst wenn er sich auf der Weide hoch oben auf dem Berg befindet und mit Pliny und seinen Brüdern an den Fundamenten für sein Haus arbeitet, spürt er ihren prüfenden Blick. Sie sagte ihm, er solle vergessen, dass sie da sei, aber dieser Bitte konnte er unmöglich nachkommen.
Und während er am Haus arbeitet, stellt er sich unweigerlich sie darin vor, träumt davon, dass es auch ihres sein könnte. Er hat sich bei den Plänen für sein Haus an dem von Pliny orientiert – mit einigen Ergänzungen – und ihr den Rohentwurf seiner Vorstellungen gezeigt. Es werde zwei Räume im Erdgeschoss und zwei im ersten Stock haben. In der Küche und im Wohnbereich soll ein großer Kamin eingebaut werden, der ein Dutzend Brotlaibe auf einmal backen kann, und für die Küche hat er einen Spülstein vorgesehen, der aus einem Block Sandstein geschnitten und poliert wird. Unterhalb der Küche soll ein großer Keller für Wein und Käse und alles andere entstehen, was kühl gelagert werden muss. Oben entstehen zwei Schlafzimmer. Anstelle des Schleppdachanbaus, der bei Pliny als Milchkammer und Käserei dient, möchte er die Milchkammer separat an die Ställe anbauen. Und die Ställe werden einen Steinboden bekommen, damit die Kühe gemolken werden können, ohne sich im Schlamm zu suhlen.
Als die Skizzen fertig sind, beginnt Jemma mit der Leinwand. Es dämmert bereits, als Gotardo von der oberen Weide auf dem Berg, wo er gearbeitet hat, herunterkommt, um sie zu fragen, ob sie mit ihnen bei den Serafinis zu Abend essen wolle. Anstatt die Leinwand rasch mit einem Tuch abzudecken, wie sie das sonst immer getan hat, winkt sie ihn mit einem kleinen Lächeln herbei.
»Ich habe mir ein paar Freiheiten herausgenommen«, beginnt sie vorsichtig. »Wenn Sie damit nicht zufrieden sind, lässt sich das ändern.« Sie bedeutet ihm, dass er sich das Bild ansehen soll.
Gotardos erster Eindruck erfasst die Qualität des Lichts, die ihm bei seiner Ankunft sofort aufgefallen ist. Das gleißende Weiß dieses Lichts, das im Vergleich zu dem zarteren Licht des Nordens hart und erbarmungslos ist, gleichzeitig jedoch eine Art von Luftspiegelung hervorzurufen vermag, die staubige Straßen in ferne Wellen verwandelt. Ein weiter Himmel in kräftigem Blau mit einem kecken Wolkenbausch und waberndem Hitzedunst am fernen Horizont beherrscht die Hälfte der Leinwand. Unter diesem Himmel ragen in der Ferne violette Berge auf, und im Vordergrund der Weide, wo seine Kühe grasen, haben ihre vertrauten kastigen Gestalten – einige stehend, andere liegend – sich im Schatten eines großen alten Eukalyptusbaums zusammengedrängt. Alles ist so, wie er das erwartet hatte, nur auf der mittleren Ebene nicht, wo der Berg steht, auf dem er baut. Statt des Steinfundaments hat sie bereits das fertige Haus gemalt.
Er sieht es sich aus der Nähe an und bewundert das Trockenmauerwerk, das unverkennbar den schweizerisch-italienischen Bauherrn verrät – doch weitaus überraschender findet er, dass sie genau das gemalt hat, was er sich ausgedacht hat. Oder genauer, was er sich erträumt hat, denn das ganze Werk hat definitiv Traumqualität. Es gibt keine scharfen Umrisse. So wie die Luft im Spätsommer vom Klang der Zikaden vibriert, summt hier der Horizont vor Licht. Das Haus selbst ist peinlich genau ausgeführt: die zwei Geschosse, das steile Schieferdach, die breite Veranda mit
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