Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
Byrne will gerade wieder hinuntersteigen, da fällt ihm eine Frau mit einem breitkrempigen Strohhut auf, die schnellen Schritts den Hang in Richtung Gärten erklimmt. Sie wirft gelegentlich einen Blick hoch zum Turm, fast als spüre sie, dass man sie beobachtet. Ihr zielgerichteter und energiegeladener Schritt lässt ihn vermuten, dass sie zu einem Stelldichein unterwegs ist, sich auf jemanden freut, den sie gleich treffen wird. Einen Liebhaber vielleicht. Über das, was sein Geist da zusammenspinnt, muss er selbst lachen. Für ihn ist es eine Art Glaubensbekenntnis, dass jeder ein geheimes Leben der einen oder anderen Art führt. Und für ihn steht fest, dass die meisten Menschen das entweder nicht erkennen oder sich nicht eingestehen, selbst wenn es sie in ihren Träumen verfolgt. Seiner Überzeugung nach besteht kein großer Unterschied zwischen der Erforschung dessen, was sich in der Erde abspielt, und dem, was in den Köpfen der Menschen vor sich geht. In beiden Fällen liegt die wahre Geschichte in den unterirdischen Tiefen verborgen, und man muss lernen, die Zeichen zu deuten, welche diese Tiefen aufwerfen.
Aber vielleicht ist sie doch einfach nur zu einem Spaziergang unterwegs.
Sosehr es ihn auch freuen würde, seinen Verdacht bestätigt zu sehen, kann er es sich nicht erlauben zu verweilen. Er ist bereits für seine eigene Verabredung spät dran, obwohl diese nicht dazu angetan ist, ihn zu beflügeln. Ein Treffen mit dem Chefgeologen der Vermessungsbehörde verheißt nie etwas Gutes.
Am Fuße des Aussichtsturms liegen die botanischen Gärten, der Stolz der Stadt, wo die Winterblumen in voller Blüte stehen. Doch Nathaniel hat kein Auge für die üppig roten Münder der Rhododendren, die Gartenbeete mit ihren zahllosen rosa Azaleen oder den Kamelien, die ihm ihre zarten Blüten zu Füßen werfen. Dazu ist er in Gedanken viel zu sehr mit der Aussicht auf eine weitere Abkanzelung oder womöglich Schlimmerem beschäftigt. Und als er den Fuß des Berges erreicht hat, hat er die Frau mit dem breitkrempigen Hut längst vergessen.
12
Im Turm ist es kühl und dunkel, vor allem nach der grellen Mittagssonne. Jemmas Schritte hallen nach, während sie die steinerne Wendeltreppe hinaufsteigt. Ihr Atem geht schwer, aber sie ist entschlossen, nicht stehen zu bleiben, nicht, bevor sie oben ist. Als sie ins Tageslicht hinaustritt, muss sie blinzeln, doch die plötzliche Weite, die sich vor ihr auftut, dieses Gefühl von Erhabenheit und Raum, wo der Himmel sich mit dem Horizont vermählt, entlockt ihr ein Lächeln. Es ist vergleichbar dem Gefühl, wenn man nach dem Schwimmen unter Wasser wieder auftaucht und vergessen hat, wie die Welt über der Wasseroberfläche aussieht.
Ein Jahr ist es her, seit sie zuletzt hier oben war – nicht lange, nachdem sie in die Stadt gekommen war – und noch ein anderer Mensch mit einem anderen Leben war. Sie dreht sich langsam im Kreis und nimmt die Aussicht in sich auf. Die Vulkanhügel, die staubigen blauen Wälder, die leuchtenden Maisfelder und die Obstgärten, die Stadt direkt unter ihr und die Silberspur der Eisenbahnschienen, die immer wieder auftaucht und verschwindet. Sie sucht in der mittleren Ebene, wo am Rande der Stadt eine staubige Straße zu einem Hof führt: jene zehn Ar Land, auf dem sie jetzt meistens ihre Tage zubringt. Das Neuland, wo sie die Einwanderin ist, die sich den Gegebenheiten anpassen muss.
Es ist gut, dies alles einmal mit so viel Abstand zu erfassen. Monate sind vergangen, seit sie das letzte Mal umhergeschweift ist, eigentlich seit ihrer Hochzeit nicht mehr. Und wenn sie jetzt hinabblickt, liegen die vergangenen acht Monate fast greifbar vor ihr. Sie sieht sich, wie sie über die Weiden wandert, am Morgen die Kälber füttert oder gebückt im Garten gräbt und pflanzt und sich immer und immer wieder sagt, dass dieser Ort der ihre ist. Sie kann sich im Haus sehen, wo sie von einem Zimmer ins andere wandert und dabei immer im Wohnzimmer verweilt, vor dem Bild, das sie gemalt hat, ehe es gebaut wurde. Sei es durch Zufall oder Planung – es sieht jedenfalls dem fertigen Gebäude bemerkenswert ähnlich, dem Ort, den Gotardo und sie in ihren Träumen heraufbeschworen haben.
Manchmal beobachtet Gotardo sie dabei, wie sie das Gemälde betrachtet, und kommt dann zu ihr und nimmt ihre Hand.
»Kannst du es auch kaum glauben?«, fragt er.
Jemma lächelt. »Dass wir zusammen hier sind?«
»Ja.«
»Manchmal schon.«
»Aber du bist glücklich?«
Jemma sieht
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