Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
Kindes – die geschürzten Lippen, die bebenden Nasenflügel, die leicht schrägen geschlossenen Augen. Wer braucht einen Gott, fragt sie sich, wenn Menschen so etwas zustande bringen? Stundenlang, vielleicht aber auch nur Minuten ruht ihr Blick auf ihrem Kind, dann werden ihre Lider schwer. Sie will das Neugeborene zurück in das Kinderbett legen, doch da zieht sich ihr Leib unter heftigen Krämpfen zusammen, und Ströme warmen Bluts laufen an ihren Beinen entlang. Weil sie an ihre Mutter denken muss, drückt sie das Kind an ihre Brust, während der Raum um sie zu verschwimmen beginnt. Auf ihren schwachen Schrei hin kommt die Hebamme ins Zimmer geeilt, wirft die Decke beiseite und untersucht den blutigen Ausfluss. Ohne Vorwarnung schlägt sie mit der Faust fest auf Jemmas noch immer geschwollenen Leib. Mit einem »Popp« schießt der Rest der Nachgeburt heraus. Die Hebamme entfernt die blutige Masse, legt das Kind zurück ins Bettchen und bettet Jemmas Füße auf einen Stapel Bücher, die sie aus dem Regal holt.
»Ich werde doch nicht sterben?«, flüstert Jemma.
Die Hebamme tätschelt ihr die Hand und sagt ihr, sie müsse sich jetzt ausruhen, ihre Arbeit sei getan.
In jener Nacht wird Jemma vom Grunzen und Schnauben einer wilden Kreatur geweckt, die sie noch nie zuvor gehört hat. Im Halbschlaf und bedroht von unsagbaren Ängsten setzt sie sich kerzengerade im Bett auf und klammert sich an die Schulter ihres Mannes.
»Gotardo, es ist ein Tier im Raum!«
Zwei Wochen nach der Geburt von Lucia Rose machen die Volettas ihren ersten Familienausflug. Während sie stolz den Kinderwagen über die Hauptstraße von Wombat Hill schieben, kommen Leute, mit denen Jemma noch kein Wort gewechselt hat, und sogar einige, die ihr bisher ausgewichen sind, aus den Läden und über die Straße auf sie zugeeilt, um einen Blick unter das Korbverdeck zu werfen und mit gurrenden Lauten das schlafende Kind zu bestaunen.
Am Tag nach der Geburt kamen Gotardos Leute mit Geschenken und Essen und so vielen guten Wünschen in ihr Haus geströmt, dass Jemma den ganzen Tag gegen ihre Tränen ankämpfen musste. Wie Kenner kindlichen Fleisches scharten sie sich um das Neugeborene und diskutierten die Herkunft jedes einzelnen Gesichtszugs und Ausdrucks. Bleich und erschöpft verfolgte Jemma vom Bett aus das Geschehen. Bei all ihrer Liebe zur Kunst hatten die Werke der großen Meister, die die Jungfrau Maria und ihr Kind auf die Leinwand bannten, sie nie besonders zur rühren vermocht, da sie ihr oft viel zu sentimental und einfach unrealistisch erschienen. Und vielleicht würde sie das auch noch immer so sehen. Aber den Wunsch, ein menschliches Kind als ein Alltagswunder zu verehren, den vermag sie jetzt nachzuvollziehen.
Was ihre eigenen Gefühle betrifft, sind diese viel zu überwältigend, als dass sie sie zeigen könnte. Nachts wacht sie stündlich auf und lauscht angestrengt den Atemzügen ihres Kindes, während sie ihre anhält. So wenig wie über den Schmerz der Geburt vermag sie über diese Liebe zu sprechen. Sie ist zu groß, zu gewaltig, so beladen mit Hoffnung und Angst, dass sie nicht in Worte gefasst werden kann. Die Wahrheit ist zu übermächtig. Binnen weniger Wochen ist sie zur willigen Gefangenen einer Liebe geworden, aus der es kein Entrinnen gibt. Einer Liebe, die sich für den Rest ihres natürlichen Lebens in ihrem Herzen eingenistet hat.
Doch wenn Gratulanten nach Brüdern und Schwestern für das Kind fragen, meldet Jemmas altes Ich sich rasch zu Wort. »Ich bin keine Gebärmaschine«, ist sie versucht zu antworten. Und sie muss an sich halten, als sie Mrs. Henning mit ihrer Kinderschar auf der Straße geschäftig auf sich zukommen sieht.
Nachdem diese das Kind unter dem Kinn gekrault hat, wendet sie sich an Jemma und meint befriedigt: »Das macht demütig, nicht wahr, Mrs. Voletta? Ich schätze, Sie werden nunmehr manches anders betrachten.«
»Demütig macht es. Noch einen guten Tag, Mrs. Henning.« Jemma schiebt den Kinderwagen weiter über den Gehweg, weil sie genau weiß, dass sie sich, bliebe sie nur einen Moment stehen, weitere Plattitüden würde anhören müssen, die sie zu Antworten provozieren könnten, die sie später sicherlich bedauern würde.
Ihr Ziel ist das Fotoatelier von Thomas Feehan. Gotardo legt großen Wert darauf, dass sie für Fotografien en famille posieren, damit er in seiner nächsten Post an seine Eltern eine Karte beilegen kann. Sosehr Jemma auch der Gedanke gefällt, Fotografien von Lucy
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