Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
Hänge des schmalen Tals sind grau und von Felsbrocken übersät und liegen für immer im Schatten des Gotthard, aber Locarno liegt in der Sonne und erfreut sich üppiger Vegetation, die Luft kitzelt einen mit dem Duft von Obstblüte, Gardenien, Akazien und unbändiger Wisteria, deren Blüten wie reife Trauben von den vielen Pergolen hängen, die die Straße säumen. Hinter den Oliven- und Granatapfelhainen liegt wie der Ozean, den er bald überqueren wird, die traumverlorene Weite des Lago Maggiore mit seinen lockenden fernen Ufern.
Einsamkeit ist Gotardo fremd, wenn er mit seinen Tieren zusammen ist. Anders als Schafe, die unbeständig und beschränkt sind, und Ziegen, die sich übermütig und stur verhalten, sind Kühe treue und zuverlässige Gefährten. Während er sie Richtung Süden treibt, lässt er beim Gehen oft eine Hand auf einem ihrer Leiber ruhen, in der anderen eine Ausgabe von Ovid, die er mit einem ausgefransten Bindfaden an seinem Gürtel befestigt hat. Er hält sich an die Küstenstraße, um dem stacheligen Rücken des Apennins auszuweichen, und ihm fällt auf, dass er, je mehr Wochen vergehen, die Rumpfknochen der Kühe ein wenig schärfer hervortreten fühlt. Als er dann endlich den abgeflachten Kegel des Vesuvs erblickt, sind die Kühe mehr Knochen als Fleisch und benötigen dringend Ruhe und ein Weiderecht. Gotardos Füße sind voller schlimmer Blasen, aber ansonsten ist er in guter Verfassung. Gerade hat er die Metamorphosen ausgelesen und trägt in sich die Gewissheit, dass auch er zu einer Geschichte der Wandlung aufgebrochen ist.
Die kurze Reise durch das Mittelmeer und die Straße von Gibraltar bis hinauf nach Liverpool soll angeblich der leichteste Teil sein, aber das voll getakelte Segelschiff, auf dem ihm der Auswanderungsagent einen Platz gebucht hat, ist alt und knarrt und gerät so leicht ins Schlingern, dass er die ganze Reise flach in seiner Koje liegend verbringt, weil er sich bei jedem Versuch aufzustehen übergeben muss. Noch keine Krankheit hat ihn bisher so geschwächt wie diese Seekrankheit. Er zahlt einen Decksmann dafür, dass er seine brüllenden Kühe im Laderaum füttert. Gemolken werden müssen sie nicht mehr, sie sind alle trocken geworden. Gotardo liegt hungrig in seiner Koje, da er kein Essen bei sich behalten kann, und sorgt sich wegen der langen Reise nach Australien. Abgesehen von der Frage, ob die Kühe diese überleben werden, fürchtet er, seinen Teil des Handels nicht erfüllen zu können, sofern die Milch der Kühe nicht fließt. Denn seine Überfahrt wird mit der Milch bezahlt, mit denen die Passagiere während der Überfahrt versorgt werden.
Als er am Hafen von Liverpool erfährt, dass er auf der Great Britain gebucht ist, einem gewaltigen neuen, aus Eisen gebauten hochseetüchtigen Dampfer (mit Segelkraft), von dem es heißt, dass er die Entfernung nach Melbourne in weniger als siebzig Tagen zurückzulegen vermag und dass man sein Vieh in Ställen unterbringt, damit es auf rauer See nicht hin und her geschleudert wird, kommen ihm Freudentränen. Und er begießt, während das Schiff stampfend den Mersey hinunterfährt, mit einer Gruppe Italiener und Schweizer sein Glück bis tief in die Nacht mit Grappa. Sie beobachten den aufgehenden Vollmond, bis er wie ein leuchtender Gummiballon über dem Horizont schwebt. Es entzieht sich jeglichen Verständnisses, wie diese ferne Kugel das Wasser unter ihnen anzuziehen und es in diese oder jene Richtung zu bewegen vermag. In einigen Nächten ist dieser Mond nicht mehr als ein Stück Käserinde, schwillt dann jedoch von Neuem an und streut seinen milchigen Pfad winkenden Lichts über das Wasser.
Gotardo ist froh, nicht mehr auf der Straße unterwegs zu sein, froh, dass Wind und Willenskraft und Dampf ihn fortbewegen, froh, zu wissen, dass ihm alles – bis auf die Fürsorge um seine Kühe – aus den Händen genommen ist. Dabei vermag er weder an die Vergangenheit, seine Eltern und Felice noch an die Zukunft zu denken, seine Brüder und seine Cousins, die er so lange nicht gesehen hat. Außer der treibenden Welt des Schiffes, des kolossalen Himmels und des endlosen Ozeans scheint nichts mehr zu existieren. Und während sich um ihn herum das Universum auftut, öffnet sich sein Geist dem ihn umgebenden Raum. Er spürt seine Sinne für neue Bedeutungen, neue Denk- und Sichtweisen der Welt erwachen.
Nachdem sie den Äquator überquert haben, studiert er den fremden neuen Himmel mit seinen ihm unbekannten
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