Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
ein Habicht, von einem Luftstrom gehalten, schwebt und auf den Boden späht, muss sie an Mr. Ruskin denken. Hatte sie sich wie ein Habicht auf das Kind als Beute gestürzt? Sie schlägt ihr Skizzenbuch wieder auf. Unterzieht die Zeichnungen einer eingehenden Prüfung, hält den Atem an, aber bereut nichts. Sie hat den flüchtigen Moment festgehalten, wie Mr. Ruskin das fordert. Das Kind lebt, der Augenblick ist vorüber, nur die Zeichnungen bleiben mit ihrer Version einer Gnadenfrist. Wie vielen wird eine derartige Chance gewährt?
Ihrem Vater war solches Glück nicht zuteilgeworden, und doch würden die meisten seinen Tod wohl als natürlich ansehen. Was jedoch war natürlich daran, allein zu sterben? Sie war eines Abends nach einem Unterrichtstag heimgekehrt und fand ihn auf der Koppel hinter ihrem holzverschalten Häuschen, wo er mit dem Gesicht nach unten dalag, einen verwelkten Strauß Butterblumen fest in der Hand, auf seinem Kopf die große graue Elster, die er den ganzen Winter über gefüttert hatte und die sie nun mit ihrem klagenden Krächzen tadelte. In der Nacht davor war sie vom Knacken der Dielenbretter wach geworden und aufgestanden und hatte ihn im Nachtgewand im Salon auf und ab gehen sehen, eine Hand gegen die Brust gedrückt. Als er sie sah, ließ er seine Hand fallen. Sie starrten einander schweigend an, dann begann die Standuhr mit ihrem quälenden Geläut. Dunkle Tränensäcke hingen unter seinen Augen, sein Rückgrat bog sich unter einem unsichtbaren Gewicht. Er schien sich zu ducken, als sehnte er sich danach, sich zu verstecken, sich an einem engen, dunklen Ort zusammenzurollen.
»Verdauungsstörung«, sagte er mit erzwungenem Lächeln.
Aber sie hatte die Angst in seinen Augen gesehen. Doch selbst da hatte sie noch nicht geglaubt, dass dieser gewaltige Bär von einem Mann vielleicht sterben könnte. Dieser Mann, der nie krank gewesen war, der sie mit so viel Zärtlichkeit überschüttete und dessen Gesellschaft ihr so lieb und teuer war, dass sie sich nicht vorstellen konnte, einen Ehemann zu finden, der ihm gleichkam. Mochte er sie auch zur Freidenkerin erzogen haben, so war es ihr trotzdem gelungen, zweiundzwanzig Jahre alt zu werden und fest an seine Unsterblichkeit zu glauben.
Dann sah sie ihn dort im Gras liegen, gefällt wie ein Baum.
»Papa!«, schrie sie, sank neben ihm nieder und drehte ihn sanft um. Beim Anblick seiner geöffneten leblosen Augen stockte ihr der Atem. Jeglicher Ausdruck war verschwunden. Sein schwerer Körper unwichtig für die Welt. Sein Schweigen war schrecklich, finaler als alles, was sie sich hatte vorstellen können. Während sie über ihm kniete und ihre Tränen auf seine fleckigen Wangen tropften, ging ein Teil von ihr auf Abstand und nahm die Form seines gestürzten Körpers inmitten der Butterblumen wahr, dazu den Totenwache haltenden Vogel und das violette Licht der zeitigen Dämmerung, das langsam in Abendnebel überging. Dieser Teil von ihr war seitdem immer auf Abstand zum Leben geblieben. Und unter Mr. Ruskins Anleitung war sie zu der Überzeugung gelangt, dass die Dinge sich nur dann richtig erfassen ließen, wenn man sie zerstörte und sie dann auf neue Weise wieder zusammensetzte. Nur indem man der glatten Oberfläche der Dinge Gewalt antat, ließ sich die Zerbrechlichkeit des Augenblicks erfassen und erkennen, wie das Leben am Rande der Vernichtung schwebte.
Und so hatte sie sich auf ihre Kunst gestürzt und sich mit der Arroganz der Jugend eingeredet, das Schlimmste bereits durchgemacht zu haben, sodass von nun an nichts mehr sie berühren konnte.
In den Wochen, die auf das Picknick folgen, vollendet Jemma eine Reihe von Gemälden, die in der wiedervereinigten Familie gipfeln, deren unausgesprochener Zorn sich aus der Leinwand heraus gegen sie richtet. In der Zwischenzeit macht dieser Vorfall im ganzen Bezirk die Runde, zusammen mit Berichten von der jungen Gouvernante, die das ganze Drama skizziert hat. Und solange Jemma noch damit beschäftigt ist, sich in Wombat Hill zurechtzufinden und in ihrer neuen Behausung einzuleben, macht in den Salons und Wohnzimmern der Stadt eine andere, schemenhafte Jemma mit einem frei aus Gerüchten und Spekulationen erfundenen Eigenleben ihre Aufwartung. Was ist das für eine Frau, fragt man sich, die weiterzeichnet, während ein junges Mädchen vom Tode gestreift wird?
2
In der Nacht, bevor Gotardo Voletta das Alpendorf verlässt, wo er die ersten fünfundzwanzig Jahre seines Lebens verbracht hat,
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