Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
weiterdrehen wie vorher? Und doch war wieder ein neuer Tag angebrochen, die Sonne stieg in den Himmel auf, die Vögel sangen, Leute regten sich. Wie sollte sie jeden weiteren neuen Morgen ertragen, wenn ihr kleines Mädchen nicht mehr aufwachte?
Die Tür geht auf, und ein Mann ruft ihren Namen. Wütend und erschrocken springt sie auf, weil sie wieder mit O’Brien rechnet.
Darauf war Nathaniel Byrne nicht vorbereitet. Jemma in ihrem Nachthemd, die Augen eingefallen, das Haar lose herabhängend. Er nähert sich ihr und ergreift ihre Hände. Wagt es kaum, sie anzusprechen.
»Jemma«, flüstert er.
Sie starrt ihn an. »Was willst du?«
»Verzeih mir. Aber weißt du, was O’Brien vorhat?« Nathaniel erzählt ihr, was er erfahren hat. Der Sergeant plane, sie wegen Mordes an ihrem Kind zu verhaften.
Jemma muss an das Angebot denken, das O’Brien ihr gestern gemacht hat. Er werde keine Anklage gegen sie erheben, sofern sie einwillige, ihren Ehemann zu verlassen und nach angemessenem Abstand seine Frau zu werden. Es war der absolute Wahnsinn. Vorgetragen in gemessenen und entschlossenen Worten, als würde er schlicht seine Pflicht erfüllen. Als würde er vollkommen vernünftig handeln. Als wäre dies eine Option, die sie ernsthaft in Erwägung ziehen könnte. Und wieder erinnerte sie sich daran, wie er ihr geschworen hatte, niemals aufzugeben.
Sie hatte überlegt, seinen Vorgesetzten auf der Polizeiwache aufzusuchen, der ein aufrichtiger Mann zu sein schien. Aber wie groß war ihre Chance, dass er ihr glauben würde? O’Brien würde leugnen, würde sie beschuldigen, völlig durcheinander zu sein, und auf diese Weise versuchen, die Schuld von sich abzuwälzen.
»Ich weiß, Nathaniel.«
Ohne zu überlegen streckt er seine Arme nach ihr aus. Es ist das erste Mal, dass sie ihn Nathaniel genannt hat, obwohl sie sich dessen gar nicht bewusst zu sein scheint. Er möchte sie festhalten und trösten, ihren Schmerz ausmerzen. Aber für sie gibt es keine Beruhigung, keinen Trost.
»Ich kann dich an einen sicheren Ort bringen, Jemma. Wo O’Brien dich nicht finden wird.«
Jemma blickt ihn durch lose Haarsträhnen hindurch an. »Damit alle glauben, ich hätte mein Kind umgebracht?«
»Wenn er dich nicht kriegt, will er dich baumeln sehen!«
Jemma glaubt nicht, dass O’Brien sie tot sehen möchte. Er möchte sie für sich haben. Im Gefängnis wäre sie in seiner Gewalt, er könnte noch immer hoffen. Sie hat keine Angst vor O’Brien. Als Lucy geboren wurde, erkannte sie die wahre Bedeutung von Angst, die Angst, etwas zu verlieren, das kostbarer war als das eigene Leben. Nein, vor O’Brien hat sie keine Angst. Die Angst, die sie jetzt befällt, ist gänzlich anderer Natur. Sie betrifft die Ereignisse des folgenden Nachmittags. Den kleinen Sarg, das frisch ausgehobene Grab.
Nathaniel wartet auf ihre Antwort. »Jemma?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Denk bitte darüber nach. Ich werde morgen zurückkommen«, sagt er. »Es bleibt nicht mehr viel Zeit.«
30
In der folgenden Nacht setzt Regen ein, der bis zum Morgen anhält. Weil sein Prasseln auf dem Blechdach sie aufweckt, reißt Jemma die Tür ihres Ateliers auf und geht hinaus in den Wolkenbruch. Sie folgt dem Kiespfad, der sich um den Garten schlängelt, vorbei am Gemüsebeet und den Weinstöcken, vorbei an der Milchkammer und der Pergola. Der Regen durchweicht ihre Bluse und ihren Rock, rinnt über ihren Rücken und füllt ihre Schuhe. Sie wandert am Obstgarten vorbei und sieht es dann, ehe sie Zeit zum Rückzug hat – die kleine Grube aufgehäuften Sands, von allen Seiten mit dicken Planken aus Rotgummibaum gestützt. In der Sandgrube steht ein winziger Eimer mit Spaten. Im Eimer blubbert Wasser, das überläuft, als würde es auf einem Herd kochen.
Jemma starrt es an. Wie lebendig das Wasser aussieht, wenn die Regentropfen von der eingedellten Oberfläche abspringen. Wie kann man leben mit so viel unbekümmertem Leben um einen herum, ohne das eine Leben, das einem das liebste war? Und doch tun die Menschen das, tun es ständig. Bliebe sie hier, gäbe es kein Entrinnen. Nicht vor dem Haus, dem Garten. Dem Eimer. Dem Spaten. Den ständigen Erinnerungen, wohin ihr Blick auch fiel. Und überall der Geruch fruchtbaren, feuchten Lehms. Blind stolpert sie durch den Regenschleier zurück in ihr Atelier. Drinnen hockt sie sich nieder und legt ihren Kopf in ihre Hände. Das ist unerträglich. Heute wird ihr kleines Mädchen in diese nasse kalte Erde gelegt.
Und da weiß
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