Sehnsucht
tiefer Liebe eines Mannes gehabt, der irgendwann kommen würde. Und daran sei überhaupt nichts Schlechtes, fand sie.
Die Liebe sei doch die herrlichste Sache der Welt, die einzige, die es wert sei, ein Leben zu führen, bei dem man früh um vier Uhr aufsteht, um die Hausarbeit zu verrichten, dann aufs Feld geht und später in die Stickschule â die langweiligste Sache der Welt â, und dann mit dem Krug auf dem Kopf am Brunnen Trinkwasser holt, und bei dem man alle zehn Tage die ganze Nacht aufbleibt und Brot backt, um am Morgen wieder den Wassereimer aus dem Brunnen zu ziehen und die Hühner zu füttern. Wenn Gott nicht bereit sei, sie mit der Liebe bekannt zu machen, solle er sie eben sterben lassen, auf welche Weise auch immer. 36
Und als dieser Mann nicht kam, hatte sie ihn schlieÃlich erfunden. Sie nannte ihn den Reduce, den Heimkehrer. Und sie erfand eine groÃartige Liebesgeschichte um ihn herum, die man sich noch heute in dem kleinen Dorf auf Sardinien erzählt.
Nichts liebte sie so sehr wie den Reduce. Er gefiel ihr mehr als alles andere. Wenn sie mit ihm zusammen war fühlte sie keinerlei Scham ⦠Ihr ganzes Leben lang hatte man ihr gesagt, dass sie wirke, als stamme sie von einem Dorf im Mond. Jetzt hatte sie das Gefühl, endlich jemanden getroffen zu haben, der aus derselben Gegend kam, und als sei das die Hauptsache im Leben, etwas, das ihr bisher gefehlt hatte. 37
Sie hatte ihrer Sehnsucht nach Liebe einfach einen Namen und eine Geschichte gegeben und wahrscheinlich hatte sie selbst irgendwann daran geglaubt.
Den Mann gab es wirklich, aber nicht die Liebesgeschichte mit ihm. Sie hatte einen Mann auf einer Kur kennengelernt, den sie dann den Reduce nannte, weil er ein Kriegsheimkehrer war. Sie hatten sich viele Male unterhalten und einige Zeit bei Spaziergängen miteinander verbracht. Von ihm fühlte sie sich als ganze Person und als Frau wahrgenommen und ganz ohne Makel, beinahe vollkommen. Danach hat sie immer erzählt, dass sich ihr Leben in zwei Teile geteilt habe: in das Leben vor der Kur und das Leben danach. Für sie war er der schönste Mann der Welt und in ihrer Phantasie haben sie sich lange und intensiv geliebt. Durch Reduce hatte sie eine Würde gefunden, die sie ihre Verrücktheit vergessen lieÃ. Er sagte ihr: Nein, sie sei nicht verrückt, sondern ein Mensch, den der liebe Gott in einem Moment erschaffen habe, da er es leid war, noch eine weitere gewöhnliche Frau von der Stange entstehen zu lassen. 38 Viele Jahre später hatte ihre Enkeltochter einen Brief von Reduce gefunden, den ihre GroÃmutter in einer alten Mauer versteckt hatte, darin hieà es: Die Liebe, die Sie zwischen uns erfunden haben, hat mich zutiefst berührt, und während ich die Szenen las, habe ich fast bedauert â entschuldigen Sie bitte meine Anzüglichkeit â, dass es jene Liebe nicht in Wirklichkeit gegeben hat. 39 Die Sehnsucht hatte eine Phantasie erschaffen, die ihr zu einem vollkommeneren und glücklicheren Leben verhalf.
Die Suche nach der eigenen Identität
Menschen haben häufig gar keine Wahl und können sich dem Diktat ihrer Sehnsucht gar nicht entziehen. Dann müssen sie ihrer Sehnsucht folgen, ob sie wollen oder nicht, ob es vernünftig ist oder nicht, auch wenn es sie Schmerzen, Zeit, Energie oder gar den Verlust von Beziehungen kostet. Dann geht es um nicht mehr und nicht weniger als ihre eigene Identität und damit Fragen wie: Wer bin ich? Woher komme ich? Wer sind meine Eltern und was sind meine Wurzeln? Wer ist mein Vater und warum hat er mich verlassen? Und um diese Fragen zu beantworten verbringen sie viele endlose Stunden vor dem Radio oder auch ganze Jahre in irgendwelchen Kneipen mit unendlich vielen Drinks.
Einen solchen Mann auf der Suche nach seinem Vater beschreibt J. R. Moehringer in seinem autobiografischen Roman Tender Bar 40 . Die Begründungen dafür, dass er schon immer am liebsten in die Bar Dickens ging, waren Ausdruck dieser Vatersuche und ebenso einsichtig wie endlos.
Wir gingen hin, weil wir dort alles bekamen. Wir gingen hin, wenn wir Durst hatten, versteht sich, aber auch wenn wir hungrig waren oder hundemüde. Wenn wir glücklich waren gingen wir hin, um zu feiern, wenn wir traurig waren, um Trübsal zu blasen. Nach Hochzeiten oder Begräbnissen gingen wir hin, um unsere Nerven zu beruhigen, und vorher, um uns schnell Mut anzutrinken. Wir gingen hin,
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