Sehnsucht
kompensatorischen Phantasien noch nicht so schlüssig und glaubwürdig darstellen und ausschmücken können, wie das bei Erwachsenen der Fall ist. Dann berichten Kinder eines suchtkranken Vaters beispielsweise, dass der Vater immer mit ihnen spielt, viel Zeit mit ihnen verbringt, Fahrradtouren macht, in den Zoo geht oder ihnen vorliest, während sie ihren Vater seit langer Zeit nicht mehr nüchtern, sondern nur noch betrunken vor dem Fernseher erlebt haben. Dann erfüllen sie sich in ihrer Phantasie alle Wünsche, die sie haben: Sie haben einen Hund zum Geburtstag bekommen, ein neues Fahrrad oder planen eine schöne Urlaubsreise mit den Eltern. Wenn man diesen Kindern vorwirft, dass sie lügen, dann ist dies objektiv so richtig wie psychologisch falsch.
Diese Kinder haben tiefe Ãngste, ihre Lebenswirklichkeit so wahrzunehmen, wie sie ist und weil sie mit ihr nicht umgehen können flüchten sie sich daher in Phantasien, um sich ihr Leben erträglicher zu machen. Nichts anderes machen Erwachsene auch, wenn sie immer wieder phantasierte Geschichten erzählen. Es sind Geschichten der Sehnsucht, die aus einer frustrierenden Realität entstehen. Ãber diese Sehnsüchte kann man einen verstehenden Zugang zu Kindern wie Erwachsenen bekommen und langsam versuchen, Möglichkeiten und Wege zu finden, damit sie anders als durch erfundene Geschichten mit ihrem Leben umzugehen lernen, sich also letztlich mit der Wirklichkeit abfinden undsie so akzeptieren, wie sie nun mal ist. So entstehen Phantasien aus Sehnsüchten, die wiederum aus Lebenswirklichkeiten resultieren, die als bedrohlich, unvollkommen oder angstauslösend empfunden werden. Die Phantasien oder Sehnsüchte sind dann nicht das Problem â obwohl sie es auch werden können â, sondern die Lebenswirklichkeiten, aus denen sie entstanden sind.
Solange diese kompensatorischen Phantasien begrenzt sind und im Wesentlichen noch ein solider Realitätskontakt der Person existiert, so lange besteht kein ernsthafter Grund zur Beunruhigung. Man kann sich aber auch in diesen Phantasien restlos verstricken, so dass man aus diesem Netz gar nicht mehr herauskommt und am Ende Phantasie und Wirklichkeit, Erfindung und Realität nicht mehr unterscheiden kann. Phillip Roth hat in seinem Roman Der menschliche Makel einen solchen Fall eines Mannes beschrieben, der als Schwarzer geboren wird und diesen Makel abzulegen versucht, indem er sich später als WeiÃer ausgibt. Bei der Geburt seiner vier Töchter leidet Coleman Silk jedes Mal Höllenqualen aus Angst, dass seine Kinder eine schwarze Hautfarbe haben könnten, und er dann seiner Frau Iris nach so vielen Jahren gestehen müsste, dass er eigentlich ein Schwarzer ist. Er musste rund um die Lebenslüge ein ganzes Phantasiegebäude aufbauen, das jederzeit einzustürzen drohte. Coleman Silk wusste immer von seiner Lebenslüge, er hatte sich aus seiner Sehnsucht eine zweite Identität geschaffen, die seine wirkliche verbergen sollte. Es gibt aber auch Fälle, in denen die Betroffenen an ihre kompensatorischen Phantasien glauben, die zu einer psychischen Realität geworden sind und die kein Mensch der Welt ihnen wieder ausreden kann.
Liebesdurst
Ihre Schwestern bezeichneten ihre Krankheit als Liebestollheit. Wenn sie einen Mann sah, der ihr gefiel, und es gefielen ihr in ihrer Jugendzeit recht viele, dann machte sie ihm schöne Augen,versuchte seine Aufmerksamkeit zu bekommen und schrieb ihm Liebesbriefe voller erotischer Anzüglichkeiten. Daraufhin kamen die Männer nicht mehr. Und ihre Schwestern hatten die Angst, dass auch zu ihnen kein Mann kommen würde, weil ihre Schwester nun mal nicht ganz richtig im Kopf war. Sie galt als verrückt und ihre Eltern hatten sie letztendlich in eine psychiatrische Anstalt bringen wollen, weil sie sich nicht anders zu helfen wussten, als die Tochter im Getreidespeicher einzusperren. Dort hatte sie sich dann ihre Haare abgeschnitten und sich die Arme aufgeschnitten, weil sie sich selbst bestrafen wollte. Sie hatte auch mehrmals versucht sich umzubringen und hatte sich in den Brunnen gestürzt. Sie war aber gerettet worden und musste weiterleben. Immer wieder bekam sie Anfälle, warf sich auf den Boden und versuchte, alles zu zerstören, was ihr gehörte: ihre Handarbeiten, ihre Kleidung, ihr Leben. Und in all den Jahren in ihrem Dorf hatte sie immer die groÃe Sehnsucht nach wirklicher und
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