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Sehnsucht

Sehnsucht

Titel: Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang R. Hantel-Quitmann
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wenn wir nicht wussten, was wir brauchten, in der Hoffnung, jemand könnte es uns sagen. Wir gingen hin, wenn wir Liebe suchten oder Sex oder Ärger oder wenn jemand verschwunden war, denn früher oder später tauchte dort jeder auf. Vor allem aber gingen wir hin, um uns finden zu lassen. 41
    Falls noch jemals eine Frau oder Mutter wissen will, warum Männer oder Söhne gerne in Kneipen gehen, dann enthält dieseAuflistung eine erschöpfende Antwort. Aber für J. R. Moehringer gibt es noch eine andere und viel kürzere Begründung.
    Als vom Vater verlassenes Einzelkind brauchte ich eine Familie, ein Zuhause und Männer. Vor allem Männer. Ich brauchte Männer als Mentoren, Helden, Vorbildfiguren und als Gegengewicht zu meiner Mutter, Großmutter, Tante und fünf Cousinen, mit denen ich zusammenlebte. 42
    Sein Vater hatte seine Mutter verlassen (oder seine Mutter hatte sich von seinem Vater getrennt, das war nicht ganz klar), aber er hatte es als Junge so erlebt, als habe sein Vater ihn verlassen. Das konnte nur bedeuten, dass dieser Vater ihn nicht wirklich liebte, weil er irgendetwas falsch gemacht hatte. Aber was? Darauf konnte er sich in seinem kindlichen Denken keinen Reim machen. Und seitdem war er auf der Suche nach diesem Mann, um durch ihn Antworten auf seine bohrenden Fragen nach seiner Identität zu bekommen. Wie das genau aussehen sollte, wusste er auch nicht genau, dazu war es viel zu unwahrscheinlich, dass er ihn jemals finden würde, und wenn doch, hatte er immer noch genug Zeit, sich Fragen zu überlegen. Bis dahin begnügte er sich mit all den Männern in der Bar, mit ihren Antworten auf seine Fragen, die alle um das gleiche Thema kreisten: Wie werde ich ein Mann und was mache ich dann?
    Ãœber seinen Vater wusste er wenig und das auch nur durch den Filter seiner alleinerziehenden Mutter. Mein Vater war ein vielseitig begabter Mann, doch sein wahres Genie lag im Verschwinden. 43 Da er immer wieder als Radiosprecher arbeitete, konnte es passieren, dass der Junge plötzlich im Radio die Stimme seines Vaters hörte, deshalb nannte er ihn die Stimme und hörte immerzu Radio, seiner Mutter zuliebe aber sehr leise. Dann rief sein Vater eines Tages an und fragte ihn, ob sie zusammen Baseball spielen gehen wollten. Er verabredete sich mit ihm für den nächsten Tag – und er kam nicht. Der Junge wartete stundenlangbis in den späten Abend an der Straße, aber der Vater kam nicht. Immer wieder weiß er nicht wohin mit seiner Wut. Der Psychologe, zu dem ihn seine Mutter schleppt, kommt schnell zu einer klaren Diagnose: Der Junge leidet offenbar an einer Identitätskrise. Er hat keine Identität, und das verursacht Wut. 44 Also nimmt er sich erst einmal seinen Opa als Identitätsersatz und vergräbt seine Sehnsucht nach seinem Vater tief in sich. Dann taucht sein Vater plötzlich doch wieder auf, geht mit ihm zum Poker anstatt zum Baseball, verliert und setzt als letztes Pfand seinen eigenen Sohn – und verliert wieder.
    Ich erinnere mich an nichts mehr, nachdem mein Vater mich als Pfand eingesetzt hatte, was ich noch schlimmer fand als eine Tracht Prügel. Ich erinnere mich nicht mehr, wann er wieder nüchtern wurde, sich wieder anzog und mich nach Hause fuhr, und ich erinnere mich auch nicht mehr, was ich meiner Mutter über den Besuch erzählte. Ich weiß nur, die Wahrheit war es nicht . 45
    Danach orientiert er sich auf seiner Suche nach männlicher Identität lieber an Onkel Charlie oder den anderen Jungs in der Bar, allen voran Fuckembabe. Warum der Mann überall so genannt wurde war klar, sobald man mehr als drei Sätze mit ihm gesprochen hatte, denn das Wort Fuckembabe kam in jedem dieser Sätze vor. J. R. Moehringer verbringt seine Kindheit und Jugend mehr oder weniger in der Bar, schafft sein Abitur erstaunlich gut, was man heute sicher bewundernd als Resilienz bezeichnen würde, und wird anschließend zum Jura-Studium in Yale zugelassen, was natürlich ausgiebig mit vielen besonderen Drinks gefeiert werden musste. Irgendwann glaubt er ernsthaft, durch eine Änderung seines Namens den Fluch seines Vaters loszuwerden, sich mit einem neuen Namen auch eine neue Identität geben und sich selbst auf diese juristische Weise neu erfinden zu können. Seine Mutter ist begeistert und dem Staat Connecticut ist das egal, Hauptsache er bezahlt die 75$ Gebühr. Seine Mutter schicktihm das Geld und er

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