Sehnsucht
Nähe erlebt, anders als ihr Mann, eher überhitzt als unterkühlt, und insofern hatten sie beide das gleiche Thema, nur in verschiedenen Varianten. Beide hatten als Kinder den tiefen Wunsch nach bedingungsloser Liebe ohne Zurückweisung gehegt. Und wahrscheinlich verspürten beide auch den inneren Wunsch zu beweisen, dass sie mit ihrer Liebe die Eltern verändern konnten: Er wollte seine Mutter auftauen und aufwärmen, sie wollte aus dem zurückweisenden Vater einen liebevollen machen. Was sie bei den Eltern angefangen hatten, das versuchten sie später mit den Partnern fortzusetzen, es ging also um späte Lösungen für frühe Probleme.
Als sie sich als Erwachsene trafen und ineinander verliebten, hatten sie beide das Gefühl der tiefen Vertrautheit, als ob sie sich schon lange kennen würden. Aus psychologischer Sicht war ihre Liebesbeziehung eine Ãbertragungsliebe, denn sie haben alte Gefühle mit Mutter und Vater auf den neuen Partner übertragen. Dies erklärt die Vertrautheit, macht die Beziehung aber auch kompliziert. Und nach einigen Jahren stellte sich das Gefühl ein: Mein Mann ist genau so unberechenbar wie mein Vater und meine Frau ist genauso kalt und abweisend wie meine Mutter. So entstand eine Schaukelbeziehung zwischen Nähe und Distanz: Sie suchten jeweils Liebe und Annäherung, aber sobald sie die Liebe in der Nähe spürten, kam die Angst vor Abweisung wieder hoch und sie zogen sich schnell zurück, um nicht neuerlich verletzt zu werden. Der Kompromiss, den beide mit sich selbst und dem Partner eingingen, war das Festhalten an der Sehnsucht. Sie waren immer nah an der Liebe, aber je näher sie ihr waren, desto gröÃer wurde auch die Angst vor Abweisung und dann kam der Rückzug, um sich selbst zu schützen. Beide waren sehr verzweifelt, nachdem sie dies verstanden hatten und mussten mühsamlernen, alte und neue Konflikte, Frauen und Mütter, Männer und Väter auseinanderzuhalten. Rational gelang dies, aber wie immer war es mit den Gefühlen schwierig.
Das Glück in der Phantasie
Sehnsucht ist das Sehnen und Suchen nach einem vollkommenen und glücklichen Leben. Und wenn wir dieses nicht erreichen können, wären wir mit der Aufhebung einer Unvollkommenheit auch schon ganz zufrieden, sei sie nun wirklich oder nur eingebildet, geistig oder körperlich. So lässt Platon in seinem Symposion den Dichter Aristophanes eine Geschichte von der Unvollkommenheit erzählen, die zu einer heftigen Sehnsucht führte.
Es war einmal eine Zeit, da lebten die Menschen als Kugeln mit vier Armen und vier Beinen daran. Diese Menschen waren sehr stark und wurden daher zu einer Bedrohung, deshalb beschloss Gott Zeus, sie in zwei Hälften zu teilen. Sie wurden in der Mitte durchtrennt und am Bauchnabel wieder zusammengenäht. Seit dieser Trennung haben die Menschen nicht nur zwei Arme, zwei Beine und einen Kopf, sondern auch eine tiefe Sehnsucht nach der Wiedervereinigung mit der anderen, verlorenen Hälfte. Nur wenn sie diese eine andere Hälfte ihrer selbst wiederfinden, können sie wirklich glücklich sein. Offen lässt der Dichter die für viele Menschen so wichtige Frage, ob es jeweils nur eine einzige passende Hälfte im Leben gibt, oder ob nicht auch viele andere Hälften passend sein könnten. Für die Sehnsucht ist diese Frage allerdings schon lange und eindeutig geklärt: Es gibt nur eine einzige passende Hälfte und die gilt es zu finden. Erst dann wird der Mensch wieder ruhig sein können, weil dies dann die eine wahre und groÃe Liebe des Lebens sein wird. Und was macht man, wenn sich diese Liebe trotz aller Suche nicht finden lässt? Kann man mithilfe der Phantasie die Qualen unerfüllter Sehnsucht überwinden oder zumindest mildern? Unserer Seeleerscheint beinahe nichts unmöglich, wenn es für sie darum geht, sich selbst zu retten.
Solche Phantasien werden in der Psychologie als kompensatorisch bezeichnet, weil sie etwas kompensieren, was unerwünscht ist oder schlicht fehlt, weil sie einen Makel oder eine Scham bedecken. Dann wird eine tiefe Sehnsucht durch eine Phantasie beantwortet und damit ersatzweise zumindest für eine Weile gestillt. Dieser Ersatz hält immer nur zeitlich und inhaltlich begrenzt, ist nur ein Pflaster auf der Seele, schützt aber halbwegs vor neuerlichen Verletzungen. Bei Kindern kann man dies häufig erleben, weil sie ihre
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