Sehnsuchtsland
Acht nehmen musste, falls sie länger hier blieb.
Henrik schüttelte den Kopf, als könne er auf diese Weise die Bilder vertreiben, die sich immer stärker in seinem Kopf einzubrennen schienen, je mehr und je länger er an sie dachte. Ihre Augen mit der strahlend grünen Iris, ihr voller Mund, ihr weiches honigfarbenes Haar. Ihre Hände und Füße waren zart und schmal, im Gegensatz zum Rest ihres Körpers. Gunilla hatte ihm irgendwann mal beiläufig erzählt, ihre Schwester sei fett. Doch das war gewesen, bevor er Linda zum ersten Mal getroffen und dabei registriert hatte, dass sie eine geradezu klassische Stundenglasfigur hatte, mit üppigen Brüsten und aufreizend gewölbten Hüften.
Oben an der Straße stieg er in den Wagen und fuhr durch das nahe gelegene Fischerdorf in Richtung Werft. Auf halbem Wege besann er sich und entschied, dass ihm ein Ausritt gut täte. Arbeiten konnte er immer noch genug, zum Beispiel heute Abend, wenn Gunilla wieder da war. In letzter Zeit hatte er sich zunehmend Arbeit mit nach Hause genommen, in seinen Augen nicht die schlechteste Methode, das stetig wachsende Schweigen zwischen ihnen zu überbrücken. Mit Reden hatte er es weiß Gott oft genug versucht.
Er sattelte Fjäril und ließ den Wallach galoppieren, bis sie beide nass geschwitzt waren, er selbst und das Pferd. Trotzdem hatte er noch nicht genug. Er schnalzte mit der Zunge und klopfte Fjäril mit der Gerte gegen die Flanke, um eine weitere Runde zu reiten. Doch dann tauchte Gunillas Wagen an der Straßenbiegung neben der Koppel auf. Hastig zügelte Henrik das Pferd und sprang aus dem Sattel. Er war direkt am Gatter, also konnte sie nicht einfach weiterfahren und dabei so tun, als hätte sie ihn nicht gesehen. Henrik hatte allerdings den vagen Eindruck, als hätte sie genau das gern getan, denn sie wirkte eher entnervt als erfreut, als sie ausstieg und ihm entgegenging.
» Hej , Henrik!«
» Hej !« Henrik schlang die Zügel um einen Zaunpfosten und wich aus, als sie ihn auf die Wange küssen wollte. »Wo bist du gewesen? Jetzt sag bloß nicht, in Stockholm!«
Sie gab sich erstaunt. »Wieso Stockholm? Wie kommst du darauf? Ich habe dir doch gesagt, dass ich nach Göteborg muss!«
»Hör auf mit dem Theater, Gunilla!«, fuhr er auf. »Ich weiß, was du gesagt hast! Findest du diese Lügen deiner nicht unwürdig?«
Sie starrte ihn an. »Was soll das, Henrik?«
»Für wie naiv hältst du mich eigentlich?«, unterbrach er sie wütend. »Glaubst du, ich weiß nicht, dass du mich betrügst?«
Sie schlang die Arme um sich. »Also gut. Wir müssen reden.« Nervös schaute sie den Weg entlang. »Aber nicht hier und nicht jetzt. Nach dem Essen. Wir sind sowieso schon spät dran.«
Henrik wandte sich ab und ging zurück auf die Koppel.
*
Als Henrik und Gunilla den Speisesaal betraten, legte Frida gerade das gute Tafelsilber auf. Henrik nahm mit hochgezogenen Brauen zur Kenntnis, dass es offenbar etwas zum Feiern gab, denn die handgenähten Damastservietten, das alte chinesische Porzellan und die zweihundert Jahre alten Kristallgläser wurden sonst nur zu besonderen Anlässen aus den Vitrinen geholt. In den Kandelabern brannten frische weiße Kerzen, und die Jugendstillampe neben der großen Tafel war auf Hochglanz poliert.
Greta und Lennart betraten den Raum, und Gunilla wandte sich zu ihrem Vater um. »Entschuldige, dass wir so spät sind, Papa.« Sie beugte sich zu Lennart und küsste ihn auf die Wange. »Dieser Kunde — er war einfach nicht zu bremsen, ständig ist ihm etwas Neues eingefallen!«
»Schon gut.« Lennart, elegant im dunkelblauen Anzug und mit dezent gemusterter Krawatte, deutete auf den Tisch. »Setzen wir uns.« An Frida gewandt, fügte er hinzu: »Du kannst uns in zehn Minuten die Suppe bringen.«
Gunilla schaute unzufrieden drein. »In zehn Minuten? Oh, nein! Ich bin am Verhungern! Frida, du kannst die Suppe sofort servieren!«
»In zehn Minuten«, befahl Lennart kategorisch. Sein Tonfall machte klar, dass er keinen Widerspruch duldete. Etwas umgänglicher setzte er hinzu: »Ich habe euch etwas mitzuteilen.«
Während Frida reihum Aperitifs servierte, steuerte Gunilla wie selbstverständlich ihren Platz an und ließ sich auf den Stuhl fallen, bevor Henrik ihn ihr zurechtrücken konnte. Achselzuckend setzte er sich ebenfalls und kam sich wie immer ein wenig deplatziert vor. Obwohl er seit vier Jahren hier wohnte und fast jeden Tag in diesem Raum zu Abend aß, war es ihm bisher nicht wirklich
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