Sehnsuchtsland
musste sie etwas anderes tun. Der Entschluss war noch in der Nacht kurz vorm Einschlafen in ihr gereift. Sie hatte mit Henrik darüber sprechen wollen, doch er war praktisch von einer Sekunde auf die nächste in einen totenähnlichen Schlaf gesunken. Linda lächelte bei dem Gedanken. Sie hatte einmal irgendwo gelesen, dass alle Männer dazu neigten, nach der Liebe sofort einzuschlafen, während Frauen sich gern noch unterhielten. In diesem speziellen Fall hatte Linda ihm diese genetisch vorprogrammierte Unzulänglichkeit jedoch nur zu gern nachgesehen, denn davor hatte er ihr mit einer schier unerschöpflichen Energie bewiesen, dass seine Fähigkeiten auf anderem Gebiet ganz gewiss nichts zu wünschen übrig ließen.
Immer noch lächelnd schlüpfte sie von dem ausgeklappten, aber immer noch recht engen Sofa und suchte leise ihre Kleidungsstücke zusammen. Nachdem sie sich eilig angezogen hatte, hielt sie kurz inne, um ihn erneut zu betrachten. Die rote Decke hatte sich mit seinen langen, muskulösen Gliedmaßen verheddert und hob sich leuchtend von seiner behaarten Brust ab. Linda küsste ihn sacht auf die Stirn, und als sie gleich darauf leise die Hütte verließ, war sie davon überzeugt, dass ein Tag, der mit so einem Erwachen begonnen hatte, einfach nur wundervoll werden konnte.
Ihre Euphorie hielt an und ließ auch nicht nach, als sie das Krankenhaus betrat. Man hatte ihren Vater von der Intensivstation in ein normales Zimmer verlegt, was unbedingt als gutes Zeichen zu werten war, wie ihr der Dienst habende Arzt versicherte. Allerdings, so fügte er hinzu, sei der Patient immer noch sediert , was in dem Fall besagte, dass er schlief und möglichst auch nicht geweckt werden sollte, damit die Tabletten ihre volle Wirkung entfalten konnten.
Linda schlich auf Zehenspitzen an sein Bett und streichelte vorsichtig das Gesicht ihres Vaters. Er sah wesentlich besser aus als am Vortag. In seine Wangen war ein Hauch Farbe zurückgekehrt, und seine Züge waren deutlich entspannt. Der Schlauch, mit dem man gestern noch seine Lungenfunktion unterstützt hatte, war zwischenzeitlich entfernt worden. Der Rhythmus seines Atems war ruhig und gleichmäßig, und Linda war mit einem Mal völlig sicher, dass er bald wieder ganz der Alte sein würde. Allerdings mit einem kleinen Unterschied: Künftig würde er ihre volle Unterstützung haben, ob es ihm nun behagte oder nicht. Auf keinen Fall würde sie noch einmal zulassen, dass er sich kaputtmachte.
»Keine Sorge, Papa«, wisperte sie ihm zu. »Ich kümmere mich um alles.«
Vom Krankenhaus fuhr sie direkt weiter zur Werft. Ihr Vater hatte geschlafen und vermutlich nicht gehört, was sie gesagt hatte, doch soweit es sie betraf, hatte sie ihm ein Versprechen gegeben und war entschlossen, es zu halten.
Olav nahm sie begeistert in Empfang, als sie in die große Arbeitshalle kam. Er schleppte sie auf der Stelle hinauf ins Trockendock, um ihr alles zu zeigen, was sich seit damals verändert hatte. Der beißende Geruch von Schiffslack vereinte sich mit dem Duft frischen Holzes zu einer unvergleichlichen Mischung, die Lindas Wahrnehmungen sofort auf Hochtouren laufen ließen. Mit Kennermiene betrachtete sie die gerade erst montierten Decksaufbauten einer fast fertigen Ketsch und bewunderte die perfekte Linienführung bei den Bullaugen und am Kajütenaufgang. Sie stellte ein paar Fragen zum Einsatz computergesteuerter Maschinen, die bei ihrem Weggang damals probeweise zur Anwendung gekommen und offenbar zwischenzeitlich beim Produktionsprozess nicht mehr wegzudenken waren. Sie hatte sich durch Lektüre entsprechender Artikel in der Fachpresse darüber informiert und war davon überzeugt, dass diese Neuerungen erst der Anfang weiterer Automatisierungen war.
»Du weißt genauso gut Bescheid wie damals«, sagte Olav strahlend. »Ich habe nie verstanden, wieso du überhaupt weggegangen bist, Mädchen!«
Im Augenblick verstand sie es selbst nicht so ganz, doch über die genauen Hintergründe konnte sie natürlich nicht mit Olav debattieren. Folglich behalf sie sich mit Ausflüchten.
»Du weißt doch, wie das ist«, behauptete sie. »Man muss einfach mal raus, was anderes sehen.«
Unter hoch gezogenen Brauen warf er ihr einen skeptischen Blick zu. »Und jetzt hast du genug gesehen und festgestellt, wo dein Platz wirklich ist, ja?«
Sie zuckte die Achseln. »Meinst du nicht, dass es viele Plätze gibt, wo man leben kann?«
»Mag sein. Aber es gibt nur einen, der auch der richtige
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