Sehnsuchtsland
sie triefend und keuchend hinter ihm an Land stapfte, hörte er nicht auf, wie ein Rohrspatz zu schimpfen. »Sind Sie verrückt? Sie hätten mich beinahe ertränkt!«
»Es sah aus, als könntest du nicht schwimmen!«, fauchte sie ihn an. »Ich dachte, du ertrinkst!«
Der Junge warf ihr einen wutfunkelnden Blick zu. »Ich kann schwimmen, seit ich drei bin!«
Na toll, dachte Hanna. Auch das noch. Sie hatte für nichts und wieder nichts ein Bad genommen.
Ein Mann kam auf sie zugelaufen und blieb schwer atmend vor dem Jungen stehen. »Pelle! Um Gottes willen, was ist denn passiert?«
Der Kleine zeigte anklagend mit dem Finger auf Hanna. »Ohne sie hätte ich den größten Fisch meines Lebens gefangen!«
Hanna schlang sich beide Arme um den patschnassen Körper, damit ihr T-Shirt an Ort und Stelle blieb. Vorhin im Wasser war es bereits drauf und dran gewesen, ihr vom Körper zu rutschen. Der Ausschnitt war ein bisschen zu weit für diese Art von Freizeitbetätigung.
»Als ich das Boot sah, ist wohl der Lebensretter mit mir durchgegangen.« An den Jungen gewandt, setzte sie hinzu: »Tut mir Leid, dass ich dich unterschätzt habe.«
Sie schaute den Mann an. Er war ganz augenscheinlich der Vater des Jungen, nicht nur, weil er den Kleinen mit einer fast an Verzweiflung grenzenden Besorgnis betrachtete, sondern weil er ihm unglaublich ähnlich sah. Pelle — das war offensichtlich der Name des Knirpses — war dem Mann wie aus dem Gesicht geschnitten. Er hatte das gleiche dunkle Haar und exakt den gleichen Mund.
Verdattert stellte Hanna fest, dass sie den Mann kannte. Er war der Fremde, den sie heute früh angerempelt hatte! Du liebe Zeit, gab es solche Zufälle überhaupt?
Er hatte sie ebenfalls wiedererkannt, sein Gesichtsausdruck wechselte von Verblüffung zu offener Faszination.
Das hinderte ihn allerdings nicht daran, seinem Sohn die verdiente Standpauke zu halten. »Du bist wieder alleine angeln gewesen, Pelle!« Als er sah, wie Pelle zitterte, nahm er ein großes dunkelblaues Handtuch vom Steg und schlang es ihm um den Körper.
»Das ist streng verboten! Die Strömung treibt dich aufs Meer raus, und das weißt du!«
Pelle schob trotzig das Kinn vor und sah dabei so sehr aus wie eine Miniaturausgabe seines wütend vor ihm stehenden Vaters, dass Hanna sich ein Lächeln kaum verkneifen konnte. Wenn Pelle zitterte, dann weil er nach seinem unfreiwilligen Ausflug in den Sund fror, aber ganz sicher nicht aus Angst vor Strafe.
»Mama hat nie etwas dagegen gehabt, dass ich angeln gehe!«
»Deine Mutter hatte immer ein Auge auf dich, das war etwas ganz anderes! Jetzt ist es verboten !« Niclas machte eine Pause, um die Bedeutung seiner Worte zu unterstreichen. »Und ich muss mich darauf verlassen können, dass du dich daran hältst!«
Pelle wirkte alles andere als kleinlaut. »Alles, was Spaß macht, verbietest du mir!« Mit diesen Worten drehte er sich kurzerhand um und rannte weg, den steinigen Uferstreifen hinauf in Richtung Haus.
Niclas schaute ihm mit gerunzelter Stirn nach. Er hätte seinem Sohn folgen und weiter versuchen sollen, ihm Vernunft einzubläuen. Doch er hatte eine ungefähre Ahnung, was Pelle sich daraus machen würde — nämlich nichts. Er würde sich im Bad einsperren und die Dusche voll aufdrehen, nur damit er nichts hören musste. In seinem Zimmer benutzte er für diesen Zweck meist seine Kopfhörer, und draußen hatte er Platz genug, um einfach wegzulaufen. So wie gerade eben.
Lina hatte vermutlich Recht. Sein Sohn war nicht unbedingt pflegeleicht. Wahrscheinlich hatte der Junge sie nach Strich und Faden überfordert. Pelle hatte sich einfach angewöhnt, das zu tun, was er wollte. Und da Niclas den ganzen Tag über nicht zu Hause war, um andere Saiten aufzuziehen, würde er daran auch nichts ändern können, zumindest nicht von heute auf morgen. Kindererziehung, so viel hatte er in den zwei Jahren seit Silkes Tod immerhin begriffen, war keine Sache, die sich mal eben im Vorbeigehen oder am Feierabend erledigen ließ.
Niclas seufzte resigniert. »Er ist in einem schwierigen Alter.«
Langsam wandte er sich zu Pelles Retterin um, und als er sah, wie sie in ihren nassen Sachen fröstelte, nahm er eilig ein weiteres Badelaken vom Steg. Lina hatte hier in der Ferienzeit jeden Morgen welche bereitgelegt, weil Pelle ständig im Wasser herumplantschte und dabei leicht vergaß, wie kühl der Wind sein konnte, wenn er anschließend zum Haus hinauflief.
Niclas wusste, dass er sich
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