Sehnsüchtig (German Edition)
sie sich das nicht anmerken. Die Augen sind heute nicht ängstlich.
Als er mit zwei Tassen aus dem Nebenzimmer zurückkommt, steht sie immer noch am selben Ort, betrachtet nun ein Poster von Johnny Cash, und Eliot betrachtet sie. Sie hat ihm den Rücken zugedreht und scheint seinen Blick nicht zu spüren. Sie ist weder klein noch besonders gross, er schätzt sie auf gute 1.70 und ziemlich schlank. Zierlich, könnte man sagen. Hübsche Beine in engen, grauen Jeans, die wenigen Kurven gut verteilt. Blaue Bluse, schwarzer Blazer. Das Extravaganteste an ihr ist der Haarschnitt, dunkelbraun, schulterlang, sehr glatt, gerader Pony, wie Kleopatra. Schwarzer Lidstrich und rote Lippen, ansonsten wenig geschminkt. Auf ihrer Homepage hatte es kein Foto von ihr, sonst hätte er sie vielleicht wieder erkannt. Im Lebenslauf stand Jahrgang 1984, dann wäre sie 27.
Sie betrachtet immer noch das Poster. Johnny Cash sitzt auf einem Zaun, ein Bein auf dem anderen Knie, spitze Lederstiefel, schwarzer Anzug, die Hand auf die Gitarre gestützt. Ein Plattencover zu ‚Walk the Line’, der Gesichtsausdruck heiterer als auf anderen Bildern.
„Sie mögen Cash sehr ...“ hält sie fest, „ Du magst ihn sehr“, verbessert sie sich rasch. „Stimmt. Schliesst du das aus diesem Poster?“
„Nein.“ Sie schickt ein Lächeln in seine Richtung. „Nicht nur. Mir ist der Aufkleber an deiner Gitarre aufgefallen. Und ich glaube, das Plattencover von ‚You don’t own me’ ist ebenfalls eine Hommage an Cash.“
Er lächelt zurück. „Das stimmt. Setz dich doch.“ Sie setzt sich an den abgeschabten Eichentisch, ein Erbstück seiner Grossmutter. Er schiebt ihr die Kaffeetasse hin und setzt sich ebenfalls. „Danke“, sagt sie.
„Wie gesagt, anlässlich meiner neuen CD, die in einem knappen halben Jahr herauskommen soll, habe ich im Internet nach Grafikern gestöbert. Ich will etwas ganz anderes als beim letzten Album. Ich war nicht unzufrieden, aber ich entwickle mich gerne weiter und mag Abwechslung. Also wollte ich auch mit jemandem Neuen zusammenarbeiten. Ich habe deine Webseite gefunden und dein Stil gefällt mir. Er ist ziemlich aussergewöhnlich und etwas retro. Ich glaube, das passt zu meiner Musik ...“
Sie hört ihm aufmerksam zu, die Hände auf ihrem Notizblock verschränkt. Der Kugelschreiber liegt bereit. Ihre Nägel sind in einem zarten Violett lackiert.
„Ich treffe mich in den nächsten Tagen noch mit zwei anderen Leuten, ich wollte die engere Auswahl persönlich kennen lernen.“ Sie zuckt nicht mit der Wimper. Sie ist es sich sicher gewohnt, zu offerieren und dabei Konkurrenz zu haben. „Natürlich. Der Titel des Albums steht ja schon. ‚No way out’. Hast du Vorstellungen, was das Artwork betrifft?“
„Nicht sehr genaue“, hält er fest. „Ich will eine Illustration, kein Foto auf dem Cover wie beim letzten Album. Ich möchte etwas, was zum Titel passt in irgendeiner Form. Das Album ist düsterer als das Letzte und ziemlich elektronisch. Ich kann dir eine Liste mit den Songtiteln mitgeben zur Inspiration ... Aber lass zuerst mal hören, was dir spontan in den Sinn kommt.“ Ihm ist bewusst, dass er sie jetzt auf die Probe stellt. Sie lässt sich nicht verunsichern, sondern greift in ihre Tasche und holt ihr iPad hervor. „Nachdem du mir gesagt hast, wie das Album heisst, hab ich mir ein paar Gedanken gemacht.“
Sie schiebt ihm das Gerät hin. Sie hat eine Bildergalerie geöffnet. „Hier ein paar Sachen, die mir in den Sinn gekommen sind, die ich mir vorstellen könnte. So als Inspiration, vom Stil oder auch vom Thema her.“
Das erste Bild kommt ihm bekannt vor. Schwarz-Weiss, Menschen gehen auf einer Treppe im Kreis, aber etwas an der Treppe stimmt nicht, sie ist unmöglich. „M.C. Escher“, sagt sie. „Er hat verschiedene solche Bilder gemacht. Die Idee der unmöglichen Treppe gefällt mir, weil sie das Nichtentrinnen symbolisiert. Ausserdem mag ich seinen Stil, er ist schwarzweiss und eher düster. Aber auch verträumt irgendwie, was auch passt.“ Er nickt und wechselt zum nächsten Bild. Verschiedene Bilder von Labyrinthen. „Das Labyrinth gefällt mir als Idee auch“, sagt sie.
Als nächstes kommen Bilder, die er auf Anhieb erkennt. Ein beleuchtetes Haus an einem See, es ist Nacht, der Himmel ist aber zartblau und voller weisser Wolken wie am helllichten Tag. Ein Pferd mit Reiter im Wald, aber etwas stimmt nicht mit diesem Wald, er wächst vor und hinter und mitten durch das Pferd hindurch.
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